Seidentanz
mußte Zubehör weglassen, damit es auf der Bühne nicht zu kompliziert wird.«
Sie zog die drei Gladiolen aus der Vase, wischte sie schnell mit einem Kleenex trocken. Dann entnahm sie ihrem Toiletten-beutel einige große Spangen. Gelassen und ruhevoll befestigte sie die Blumen in ihrem braunschimmernden Haar, und zwar so, daß die Stiele die eine Seite ihres Gesichtes, die Blüten die andere Seite umrahmten. Erst jetzt wandte sie sich dem Spiegel zu, füllte langsam ihre Lungen mit Luft, wie eine Taucherin, bevor sie in die Tiefe springt. Die Verwandlung geschah in diesem Atemzug. Es war nicht bloß ein Gefühl, sondern ein Vorgang von spürbarer Realität. Sie straffte die Schultern, hob leicht das Kinn: Sie war bereit.
Ich trat zurück, hielt ihr wortlos die Tür auf. Sie sah mich nicht an, erkannte mich nicht mehr. Der Saal mit seinen Sitz-reihen war stockdunkel. Die Zuschauer räusperten sich, scharr-ten mit den Füßen. Dann wurde es vollkommen still, die Spannung war fast greifbar. Nahezu geräuschlos bewegte sich Naomi die schmale Treppe hinunter. Noch sah sie keiner. Ihren überlangen Kimono raffte sie nicht mit den Händen hoch. Nein, sie ging sehr langsam, fast im Zeitlupentempo, ohne den Blick abwärts zu kehren, und hob den Kimono, bei jeder Stufe, mit einer kaum merkbaren Bewegung ihres sich hinabtastenden Fußes. Ganz allmählich erfüllten Geräusche den Saal, fremde Geräusche, von weither herangetragen: zuerst ein fernes Gemurmel, das Schleifen von Schritten. Undeutliche Stimmen, Rufe und Gelächter. Die Geräusche kamen näher, wurden lauter, Trommelwirbel prasselte im gleichmäßigen Rhythmus. Und mit einem Mal brodelte die Musik, brach in all ihrer Klangfülle aus: Posaunen, Trompeten, Zymbeln. Ein Trauermarsch, gewaltig, feierlich und auf pathetische Weise fröhlich – aufgenommen, wie ich es später erfuhr, bei einer Karfreitagsprozession in Bolivien. Eine Musik voller Leben und Farben, dabei von be-wegender Tragik. Und mit ihr, mit dieser Musik, auf die Sekunde genau, flammten Scheinwerfer auf. Die Dunkelheit zerriß, die Leuchtkugel drehte sich, ein ständiger Wirbel bunter Flecken. Der Saal kreiste mit ihm, mit dem ziehenden Licht-schwarm, splitterte sich in Zeitlupe auf, zerfiel in sich selbst.
Auf der Bühne leuchtete das rote Band, wie eine Blutspur. Da sprang die Seitentür auf: Die Vogelfrau erschien, überlebens-groß und strahlend, im Licht eingefangen wie ein Bild hinter Glas. Ein Fabelwesen von außerirdischer Schönheit, mit dem Antlitz eines Phantoms und Augen aus flüssigem Gold; Augen, die ohne ein Wimpernzucken die Zuschauer berührten, die nichts sahen und alles wahrnahmen. Und während die Leuchtkugel flimmerte, die Musik in voller Lautstärke schmetterte, belebte sich das Bild; das Prachtgewand glänzte im wechseln-den Spiel der Falten und des aufgefangenen Lichtes. Die Erscheinung bewegte sich mit atemberaubender Ruhe. Eine Fingerspitze zeigte sich, eine Hand, zart wie ein Flügel, kroch aus dem Ärmel hervor. Sie hob einen Fuß, dann den anderen, tastete sich traumwandlerisch die vier Stufen zur Bühne hinauf. Die Blumen in ihrem Haar, unmerklich zitternd, warfen an die Wand einen Schatten von riesiger Größe.
»Das Publikum war hingerissen«, sagte Susanne Vogt. »Im Theater habe ich selten eine solche Stille erlebt.«
Sie bot mir eine Zigarette an, die ich ablehnte. Wir standen im Foyer mit einer Journalistin, die auf Naomi wartete. Evelyn kam aus Zürich. Sie schrieb für eine Zeitschrift, die ihr Haupt-thema auf »Modern Dance« richtete. Sie war eine attraktive Frau, die jetzt etwas verstört wirkte und das Stück als »scho-nungslos« bezeichnete.
»Eine Schocktherapie«, meinte sie.
Susanne zeigte ihr lebhaftes Lächeln. »Meistens weiß ich erst am nächsten Tag, ob mir das Stück gefallen hat oder nicht.«
»Ich werde wohl ein paar Tage brauchen, das zu verarbeiten«, antwortete Evelyn.
Ihr Gesicht hatte sich ein wenig gerötet. Ich wunderte mich nicht über ihren leicht provokativen Ton.
»Eine Bühnenfigur«, sagte ich, »sollte auch ohne Erklärung sinnlich erfahrbar sein. «
»Aber was zeigt dieses Stück genau?« fragte Evelyn.
Susanne rauchte entspannt.
»Ein Körper, der sich seiner Kleider entledigt und einen To-deswunsch ausspricht. Das erschüttert.«
Mir wurde es wieder kalt im Nacken; ich dachte, schon wieder, dieses Theater ist ja voller Luftzüge.
»Ja, ihre mimische Begabung hat mich beeindruckt«, gab Evelyn zu. »Da stellen sich
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