Seidentanz
die Lippen bewegten sich sehr rasch. Nach einer Weile hob sie den Blick, doch er war in die Ferne gerichtet. Welche Vision mochte das sein, die Leidenschaft auf ihrem sanften Gesicht erwachen ließ?
Ich war davon überzeugt, daß ein besonderes Band der Seelen-verwandtschaft zwischen uns bestand, daß sie meine Gefühle teilte. Doch plötzlich war sie weit weg, entrückt in eine Gedankenwelt, in die ich ihr nicht folgen wollte. Ich hatte Angst; nicht nur, davon zu reden, sondern auch, daran zu denken. Sie indessen straffte die Schultern. Ihre Augen blitzten herausfordernd, ihre Lippen wurden weiß und hart. Mit aufreizend ver-
ächtlicher Miene zerriß sie den Orakelzettel langsam in kleine Stücke und warf ihn in einen Abfallkorb.
9. Kapitel
D er Ichihime-Schrein befand sich in einer Straße ohne Geh-steige, zwischen einem fünfstöckigen Betonklotz und einer Garage. Auf den ersten Blick: keine Spur von Beschaulichkeit.
Doch wie so häufig in Japan schmolzen Modernes und Altertümliches übergangslos ineinander. Der kleine Weg zwischen den Mauern aus Bruchsteinen war mit Gräsern bewachsen. Der Wind bewegte die »Schnur der Läuterung« unter dem verwit-terten Portal, die weißen Votivstreifen waren alt und zerfetzt.
Zwischen glitschigem Gestein perlten Wassertropfen in einen Brunnentrog. Auch hier lagen die Schöpflöffel bereit. Naomi und ich wuschen uns, wie es Brauch war, die Hände und gingen über einen sauber geharkten Pfad. Der Schrein war alt und schimmerte bronzefarben. Stellenweise bedeckte Moos das Dach aus gepreßtem Lehmstroh. Der Garten schien kühl, versunken in unantastbaren Frieden. Die Bäume wuchsen hoch, wurden bevölkert von Vögeln; im dichten grünen Schatten erblickte ich ein älteres Ehepaar und einen Mann im Priestergewand; sie waren in eine leise Unterhaltung vertieft. Ein wenig abseits stand, von zartem Licht und beweglichen Schatten umspielt, ein Holzhaus. Heiße Sonne und tropischer Regen hatten die niedrigen Balken verwittert. Das Haus wirkte spuk-haft und zugleich poetisch, wie ein Haus auf einer verblichenen Fotografie. Zwei Holzstufen führten zu einer großen Veranda.
Schiebetüren aus mattem Reispapier, über die schmale Holzlei-sten liefen, bildeten die Außenwand. Eine Anzahl japanischer Sandalen und Schuhe westlicher Machart waren vor der Treppe in Reih und Glied aufgestellt.
Kaum standen wir vor dem Haus, als eine Schiebetür mit schleifendem Geräusch geöffnet wurde. Auf der Schwelle kniete eine noch junge, anmutige Frau. Sie verneigte sich graziös, berührte dabei mit den Fingerspitzen den Boden. Kurzgeschnit-tenes, blauschwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht. Sie hatte eine zierliche Nase, schön gewölbte Augenbrauen und Lachgrübchen. Sie trug eine Bundfaltenhose und einen weißen Sportpul-lover, zeigte die energische, federnde Haltung einer Turnlehre-rin. Sie stellte sich als Aiko Mori vor; eine einladende Handbewegung begleitete ihre freundlichen Worte. Naomi übersetzte.
»Mori-San bittet uns, einzutreten und uns einen Augenblick zu gedulden. Ihr Mann wird gleich kommen.«
Wir stellten unsere Schuhe zu den anderen und folgten Aiko Mori, die für uns die Tür zu einem kleinen, hellen Raum zu-rückschob. Sie kniete auf dem Boden, wartete, bis wir eingetre-ten waren und kniete auf der anderen Seite der Tür erneut nieder. Jedesmal war die Bewegung ungezwungen, gelöst und voller Eleganz. Die dicken, brokatgeränderten Binsenmatten dufteten nach warmem Sommergras. Um einen niedrigen Glas-tisch lagen einige Sitzkissen aus blauweiß bedruckter Baumwolle. In der Tokonotna – der Bildnische –, die in keinem traditionellen Haus fehlen durfte, hing zwischen glänzend polierten Holzpfeilern ein Rollbild mit einer Kalligraphie. Die Schriftzeichen, von erstaunlicher Dichte, stellten eine Art Spirale dar, in zwei Säulen eingeschlossen. Aus den verschiedenen Schattierungen von Schwarz strömte eine wilde, rebellische Kraft.
Die Spirale schien wie eine Hornisse zu beben und zu pulsieren. Mir war, als ob ich sie brummen hörte. Ich suchte Naomis Blick.
»Was bedeuten diese Schriftzeichen?«
Die freundliche Antwort kam von unserer Gastgeberin.
»Verzeihung, ich spreche ein wenig Englisch. Sie fragen nach der Kalligraphie? Sie ist von einer berühmten Künstlerin und stellt das Schriftzeichen Ma – der Raum – dar. «
In einer irdenen Vase, wie Perlmutt schimmernd, steckten einige Zweige und eine violette Schwertlilie. Tief in meinem Bewußtsein flammte ein fernes
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