Seidentanz
setzte eine betrübte Miene auf. »Sie tat ständig Dinge, mit denen er nicht einverstanden war. Sie hätten sich nur gekatz-balgt.«
Sagon brach in Lachen aus, wobei er seinen Rücken an einem der Pfosten der Wandnische rieb.
»Viel Energie wäre dabei verlorengegangen.«
Naomi äußerte sich nicht dazu. Ich sagte: »Man kann sie besser verwenden.«
»Ja, ich denke schon. «
Ich wollte antworten, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Hinter der Papierwand ertönte Gesang. Im Bruchteil eines Atemzuges wurde meine ganze Wahrnehmung von der Musik gefesselt. Die langgezogenen, getragenen Klänge, gleichzeitig brummend und glockenklar, gehorchten einem ganz merkwürdigen Atemrhythmus. Nun fiel eine Flöte ein, folgte der gesungenen Tonleiter. Die Stimme bildete sich aus einem fast unsingbaren Urton heraus, wandelte den Flötenklang ab, leitete ihn in eine Melodie über. Jedes Motiv hörte sich wie eine Probe an, bis Musik und Gesang sich verstanden und zu einer Klangfülle entfalteten, die alle Töne auf geheimnisvolle Weise enthielt. Ich fühlte die Anziehungskraft dieser Musik, ihre Vollkommenheit. Mir war, als berührte ein Finger meinen Hals. Ich keuchte fast; als ob sich ungesungene Klänge wie Tropfen in meiner Kehle ansammelten.
Verrückt, dieses Gefühl. Der Priester hatte mich nicht aus den Augen gelassen. Nach einer Weile nickte er mir zu.
»Was Sie da hören, ist Gagaku – wörtlich: elegante Musik.
Zwei Schüler sind gerade beim Unterricht.«
Schlagartig kehrte ich in die Wirklichkeit zurück. Ich schluckte würgend.
»Wer hat die Musik komponiert?«
Er deutete schelmisch auf seine Nasenspitze.
»Ich. In erster Linie bin ich Komponist, in zweiter Linie Tanzlehrer.«
Ich holte tief Luft. »Wie arbeiten Sie? Nach Noten?«
Sein ungestümes Lachen explodierte. Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann keine einzige Note lesen. Die Musik des Gagaku wird nicht niedergeschrieben. Der Komponist singt die Weise vor; der Schüler singt sie nach oder setzt sie auf seinem Instrument um. Das ist ganz einfach.«
»Ich verstehe.«
»Sie verstehen
das?«
Die Frage klang scherzhaft, war es aber wohl nicht. Ich erwartete von ihm keine Rücksichten.
»Ich nehme an, daß etwas beachtet wird, das nicht erlernt werden kann. Aufbau und Komposition, es geht auch ohne.«
Er schlürfte geräuschvoll seinen Tee, wobei er wieder blinzelte.
»Ist das wirklich Ihre Meinung?«
Ich rieb mir die Augen. Die Musik schläferte mich ein, auf ganz eigentümliche Weise. Doch ich mußte wach bleiben; ich wurde hier einer Prüfung unterzogen.
»In Europa analysiert man zuviel. Das gewöhnt man sich schnell ab, wenn man mit Behinderten arbeitet.«
»Ach, Sie arbeiten mit Behinderten? Schon lange?«
»Ich bin noch in der Phase erster tastender Versuche. Aber als Tänzerin fühle ich mich ihnen sehr nahe.«
Sagon saß kerzengerade da und beobachtete mich. Es war, als löste sich eine Kraft aus ihm, beginne mich zu umkreisen.
Wie unsichtbare Flämmchen, die zwischen uns einen Bogen spannten. Auf einmal beugte er sich leicht vor.
»Was fühlen Sie beim Tanz?«
»Fühlen?« Ich zögerte. »Ich ordne meine Gedanken und höre auf meinen Körper.«
Er nickte mit jenem seltsamen Lächeln, aus dem ich kein eindeutiges Gefühl, weder Ernst noch Ironie, erkennen konnte.
» A honto! Und was sagt Ihnen Ihr Körper?«
»Wie ich meine Schritte zu lenken habe. Den Linien nach.«
Er kniff leicht die Augen zusammen.
»Gehen Sie manchmal im Kreis?«
Ich gestattete mir die Andeutung eines Lächelns.
»Meistens.«
»Im Uhrzeigersinn?«
»Ja, natürlich«, erwiderte ich schnell. »Das kommt ganz automatisch. Und nach einer Weile… «
Ich stockte, biß mir leicht auf die Lippen. Er zog fragend die Brauen hoch.
»Nun?« fragte er sanft.
Ich holte tief Luft. Es war das erste Mal, daß ich von diesen Dingen sprach.
»Nach einer Weile muß ich aufpassen.«
»Warum?«
Die Frage klang brüsk. Ich spreizte die Finger geistesabwesend.
»Auf der Bühne – und auch bei den Behinderten – darf ich keine ungewöhnlichen Reaktionen zulassen. Deswegen habe ich eine besondere Vokalmethode entwickelt.«
Ein seltsamer Ausdruck trat auf Sagons Gesicht. Er sah zu seiner Frau hin, die aufmerksam nickte und die nächste Frage stellte:
»Sie singen beim Tanzen? Wie machen Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich würde es nicht als Gesang bezeichnen. Es kommen auch keine richtigen Worte darin vor, nur Silben. Aber es ist ein bestimmter
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