Seidentanz
Rhythmus, dem ich zu folgen habe…«
Beide fuhren fort, mich scharf und sehr genau zu betrachten.
Aikos rosiges Gesicht zeigte jetzt eine lebhafte Färbung. Ich zögerte immer noch; denn obwohl sie eindeutig interessiert wirkten, hatte ich nicht die geringste Ahnung, ob sie vielleicht betroffen waren und ich mir jetzt alles verscherzte. Ich sprach trotzdem weiter, wie aus einer inneren Notwendigkeit heraus.
»Es hört sich ungefähr an wie das, was gerade der Mann im Nebenzimmer singt. «
Der Priester neigt ruhig den Kopf. »Und was geschieht dann?«
»Dann tanze ich nicht mehr. Da ist etwas in mir, das tanzt.«
Aiko ließ langsam ihren Atem aus den Lungen strömen. Sie bewegte sich, suchte eine bequemere Stellung. Ihr Lächeln berührte mein Herz mit Wärme. Sagon warf sich ein paar Bon-bons in den Mund, sprach kauend weiter.
»Der Tanz wird oft als mysteriös angesehen. Und das ist er ja auch: ein Mysterium. Er ist mit dem Menschen verbunden, wie das Blut mit dem Organismus. Ich lehre Bugaku, die älteste Tanzform der Welt. Wir improvisieren nicht. Jeder Schritt, jede Bewegung ist vorgeschrieben. Sie dient als Vehikel. Das Herz der Tänzer strömt in die Gestik, die sie die Überlieferung lehrt.«
»Das führt sehr weit zurück«, entgegnete ich. »Manchmal bis an die Grenze der Belastbarkeit. Aber was dann?«
Er antwortete ernst:
»Dann kann es vorkommen, daß die Gottheit von dem Tänzer Besitz ergreift.«
Ich blinzelte leicht. Hinter meinen Pupillen bewegten sich verschwommene Bilder, die sich mit meinen fünf Sinnen nicht erfassen ließen. Als seien sie nicht wirklich genug. Ich dachte, ich bin Ruth, aber was bedeutet das? Ich kann alles mögliche sein oder werden. Ich habe das schon mehrmals erlebt. Und ich finde das eigentlich nicht unheimlich.
»Ich werde Sie unterrichten«, sagte Mori-Sensei.
Im Nebenzimmer war die Musik verstummt. Ich straffte mich ein wenig. Ich war also angenommen. Irgendwie hatte ich keinen Augenblick daran gezweifelt. Ich hatte die Macht nicht umsonst angerufen. Ich wußte, sie war mir wohlgesonnen; Lea hatte mir beigebracht, diese Dinge zu spüren. Und so verneigte ich mich und dankte ihm, ohne besondere Freude oder besondere Überraschung zu zeigen. Der Meister sprach nun weiter, in sachlichem Ton. Er hatte bereits Ausländer unterrichtet. Das machte ihm Spaß, und einige blieben bis zum Schluß, wobei er nicht immer das Gefühl hatte, daß er ihnen etwas beibringen konnte. Sagon sagte, ihn störe das wenig; sein Anliegen entstamme seinem persönlichen Interesse. Im ersten Monat, er-klärte er mir, würde er mir an drei Abenden pro Woche, von 19
bis 21 Uhr, Einzelunterricht erteilen und bald sehen, woran er mit mir war. Ich wollte ihn nicht glauben machen, daß ich ihn ausnutzte, und fragte nach den Kosten. Er schüttelte den Kopf mit ein paar ungeduldigen Grunzlauten. Es ging ihm nicht um Geld, sondern schlicht und einfach ums Experimentieren. Er sah im Tanz einen zyklischen Gedanken und zugleich eine Entwicklungsfähigkeit.
»Ich breche gerne mit alten Gewohnheiten. Kein Tanz hat puristische Ansprüche zu bedienen, von welcher Seite auch immer. Ich bin unvoreingenommen.«
Ich schwieg und fragte mich, was er darunter verstand. Sein schwarzes Auge sah mit spöttischer Heiterkeit zu mir hin.
»Ich sage das nicht aus Prahlerei, sondern weil ich möchte, daß Sie unbefangen sind. Lassen Sie sich das aber nicht in den Kopfsteigen.«
Er streckte den Rücken, gähnte und erhob sich mit einer leichten, federnden Bewegung. Die Unterhaltung war beendet.
Als wir an die Tür gingen, setzte er scherzhaft hinzu:
»Natürlich können Sie mir jederzeit Fragen stellen.«
Ich verneigte mich.
»Das werde ich tun, Mori-Sensei.«
Das Lächeln des Priesters erlosch nicht ganz, während er ironisch zurückgab:
»Manche Antworten müssen Sie schon selbst herausfinden.«
10. Kapitel
W eil Naomi bald nach Tokio ging, schlug sie vor, mit mir am Samstag nach Nara zu fahren. Sie wollte die Schule aufsuchen, wo sie Klavierunterricht gegeben hatte, und einige Freunde wiedersehen.
»Am Samstag? Ist da nicht schulfrei?«
Naomi schüttelte den Kopf. Nein. Es handelte sich um eine Privatschule. Die Kinder kamen nach dem täglichen Klassenun-terricht. Das Schulprojekt wurde von einer Elterngruppe geleitet und gehörte einer Stiftung. Einmal im Monat, an einem Samstag, war »Tag der offenen Tür«. Die Gründerin, Chiyo Sakamoto, war Autorin eines Buches, das in den Medien viel Staub
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