Seidentanz
die Kinder zu. Sie merkten sofort, daß ich ihnen etwas zeigen wollte. Ihre Augen wurden groß und neugierig. Sie ließen das Seil sinken. Ich lächelte und begann zu singen, ein vertrauter Abzählvers meiner Kindheit.
»Ene mene, ming mang, ping pang, zing zang…«
Dabei gab ich den Kindern ein Zeichen, das Seil zu schwingen. Sie taten es sofort. Ich begann zu hüpfen, wobei ich eine Stoffpuppe nachahmte, die Knie hochzog, den Kopf ruckartig hin und her drehte, mit den Armen schlenkerte. In Sekunden-schnelle erfaßten die Mädchen den Rhythmus. Die Erwachsenen sahen zu, wohlwollend und interessiert. Ich wußte, daß sich unter der kindgerechten Improvisation die Körperbeherrschung und der Balancesinn der Berufstänzerin zeigten. Jetzt sprang ich ein paar Achter, drehte mich in der Luft um, klemmte das Seil zwischen die Beine und brachte es zum Stillstand. Dann wirbelte ich zurück, stampfte kurz mit den Füßen auf.
»Ene mene, ming mang…«
»Ping pang, zing zang«, schrien die Kinder übermütig im Chor. Ich trat zurück, gab einem Mädchen ein Zeichen. Sie sprang sofort über das Seil, hüpfte gelenkig und mit bezaubernder Anmut. Zwei andere Mädchen gesellten sich zu ihr. Ich blieb außerhalb des Seils, gab mit den Händen den Takt an.
Plötzlich kam ein Mädchen aus dem Rhythmus. Im selben Atemzug verloren alle den Takt, stolperten gegeneinander wie bunte Kegel. Alle brachen in Lachen aus, hielten sich die Hand vor den Mund. Ich stimmte in ihr Gelächter ein, als ich einen jungen Mann sah, der im gleichen Augenblick gelacht hatte.
Seine hübschen Zähne glänzten im Licht. Unsere Augen trafen sich. Mir kam es vor, als sei plötzlich ein Schatten über mich gefallen. Oder stand ich im Schatten, während sein Licht zu mir hinüberschien? Von ihm ging ein Leuchten aus, daran war kein Zweifel; ein sanftes Feuer, das nach innen brannte.
Er stand vor mir, schlank, aber kräftig, mit langen Armen, sehnig und gelenkig. Er hatte auffallend breite Schultern und schmale Hüften. Sein Haar, das er vorne kurz und hinten lang trug, fiel blauschwarz und glänzend über den braunen Nacken.
Das Gesicht war ebenmäßig, die Nase wohlgeformt. Die Brauen waren lang und dicht, und der Schnitt seiner Augen war außerordentlich klar. Durch das weiße T-Shirt, das er – wie alle Mitarbeiter der Schule – zu engen Jeans trug, wirkte die Haut dunkler, als sie eigentlich war. Sie erweckte in mir den Wunsch, sie zu berühren und zu streicheln.
Ich brach als erste das Schweigen.
»Es hat mir Spaß gemacht. Hoffentlich habe ich die Eltern nicht erschreckt.«
Ich hatte Englisch gesprochen, auf gut Glück. Er antwortete in der gleichen Sprache. Seine Stimme war leise und tief; er sprach jedes Wort deutlich aus, sprach sozusagen die Inter-punktion mit, wie ein Schüler, der aus lauter Angst vor dem falschen Wort jede Unbekümmertheit unterdrückt. Er wirkte auf geradezu komische Art befangen, aber die Herzlichkeit seines Ausdrucks glich diese Steifheit wieder aus.
»Nein, es hat ihnen gefallen. Sie sind eine Tänzerin.«
Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich nickte lächelnd.
»Mein Name ist Ruth. Ruth Cohen. Ich wohne in der Schweiz, aber ich bin in Israel geboren.«
Er zögerte, doch nur einen Atemzug lang.
»Kunio Harada«, stellte er sich vor, wobei er noch leiser sprach und eine Verbeugung andeutete. Seine Wangen waren eine Spur dunkler geworden. Ich konnte ihm kein Alter geben.
Was so faszinierend an ihm wirkte, war diese Mischung zwischen Selbstsicherheit und Scheu. Er hatte etwas von den Hir-tenjungen an sich, denen man in der afrikanischen Wüste begegnet. Sie lachen schüchtern und strahlend, ihre Augen leuchten, sie tragen Geheimnisse im Herzen. Ihr Wissen ist ein Geschenk der Wüste. Hier gab es keine Wüste; hier gab es Reisfelder, Wälder und uralte Berge. Vielleicht war der Unterschied nur gering.
»Sie arbeiten hier?« fragte ich.
»Nur als Volontär. Ich mag Kinder.«
»Und was treiben Sie so im Leben?«
»Bisher nicht viel. Ich habe in Geschichte und Philosophie promoviert. «
Es klang, als ob er sich dafür entschuldigte.
»Was kann man damit machen?« fragte ich. »Ich meine…
wie stehen Ihre Berufsaussichten?«
Er verzog spöttisch die Lippen.
»Ich kann an einer Universität lehren. Zuerst als Assistent, später als Dozent, sofern ich es aushalte.«
»Und dann?«
»Ich weiß es nicht. Bücher schreiben, wenn ich nicht allzu ernüchtert bin.«
»Finden Sie das
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