Seidentanz
hatte sie Flecken.
»Ich hoffe, dir gefällt es hier«, sagte sie.
»Da bin ich ganz sicher.«
»Im August mußt du etwas anderes finden.«
»Ja, ich weiß.«
Sie trank ihren Milchkaffee, die Augen ins Leere gerichtet.
Sie dachte ihre Gedanken, welche auch immer, und ich dachte meine Gedanken. Im Grunde hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen. Ich wollte sie zum Bahnhof begleiten, doch sie meinte, das hätte keinen Sinn: Stoßzeit und ein Riesengedränge. Sie würde mit dem Bus fahren, und ich sollte sie nur bis zur Halte-stelle bringen.
Es wurde Zeit, daß sie ging. Sie federte geschmeidig in die Knie, warf ihren Rucksack über die Schulter und schnallte ihn an. Wir verließen die Wohnung mit den noch ungemachten Betten; Naomi händigte mir die Schlüssel aus. Wir stapften die Außentreppe hinunter; die Luft war noch kühl. Naomi schleppte mühelos ihren Rucksack.
»Paß gut auf dich auf«, sagte ich.
»Das werde ich tun, Ruth.«
»Du wirst mir fehlen.«
Sie lächelte vielsagend.
»Das glaube ich nicht.«
Ich lachte; wir lachten beide.
»Ich rufe dich an«, versprach sie.
Mir kam in den Sinn, daß sie mir nicht ihre Adresse gegeben hatte. Aber das war im Moment unbedeutend.
Der Bus kam, vollbesetzt. Wir umarmten uns rasch. Ein paar Halbwüchsige in schwarzen Schüleruniformen drängten sich vor. Naomi wartete, bis sie eingestiegen waren. Sie kletterte rücklings in den Bus, fand keinen Platz mehr und mußte stehen.
Ihr Rucksack steckte zwischen den Schülern fest, die, wie alle Schüler, nur sich selbst beachteten und mit viel Gelächter de-battierten. Wir schauten uns an, auf ihren Lippen zuckte ein kleines, trauriges Lächeln. Der Bus stieg ein zischendes Ge-räusch aus, die Türen schnappten zu. Ich betrachtete ihr Gesicht, ich wollte es mir ganz genau einprägen. Sie legte die Hand an die Scheibe. Ich drückte meine Hand von der anderen Seite flach an die Tür. Sie bewegte ganz leicht ihre Finger, als ob sie meine Handfläche kraulte. Der Fahrer legte den Gang ein, schwerfällig setzte sich der Wagen in Bewegung, fuhr die breite Straße hinunter, entfernte sich immer weiter, dann war er verschwunden. Ich keuchte, meine Zähne klapperten, das ganze Frühstück kam mir hoch. Ich wandte mich ab, taumelte bis an den Rinnstein und erbrach beinahe das Herz aus dem Leib.
Am Dienstag abend stopfte ich ein paar Sachen in einen kleinen Sportsack, den ich über der Schulter trug. Der Verkehr brauste, ein korallenroter Schimmer hob die Umrisse der Hochhäuser hervor. Kyoto funkelte und strahlte, dröhnte und vibrierte. An der Tankstelle waren Männer damit beschäftigt, ihre Wagen zu waschen und mit einem Wedel aus Straußenfe-dern abzustauben. Ein Motorrad setzte mit ohrenbetäubendem Knattern zum Start an. Ich ließ einen Lieferwagen vorbei, bog in den kleinen Weg ein, der zum Schrein führte. Hier schluckten die Mauern alle Geräusche, die Welt unter dem Laubdach war sanft und ruhig. Die am Torbogen angebrachten Votivbänder schimmerten lila in der Dämmerung. Grillen zirpten in den Büschen. Ich blieb vor dem Brunnentrog stehen, hielt meine Hände unter den kleinen Strahl und bewegte sie, um sie zu trocknen. Im Haus des Priesters brannte Licht. Ein Schein schimmerte durch die Papiertüren, hinter denen sich Schatten bewegten. Ich trat aus meinen Sandalen, kratzte an der Schiebetür, wie es die Japaner taten. Die Tür ging sofort auf. Aiko, in Jeans und schwarzem Baumwollpulli, schenkte mir ihr aufgeräumtes Grübchenlächeln und wünschte mir einen guten Abend. »Schön, daß du da bist! Du wirst schon erwartet.«
Sie führte mich in einen winzigen Umkleideraum mit einem Spiegel; Kleider hingen an den Haken. Ich war bereits im Trikot und brauchte nur meinen Wickelrock aufzuknoten. Mein Haar steckte ich mit ein paar Klammern fest, die gut hielten.
Als ich bereit war, folgte ich Aiko durch den Gang. Ich hatte inzwischen bemerkt, daß das Erdgeschoß aus einem einzigen großen Raum bestand, den man in mehrere Zimmer aufgeteilt hatte. Nun öffnete Aiko die Schiebetür, durch die ich den Übungsraum betrat. Das Zimmer war geräumig und mit Strohmatten ausgelegt. Aus einer Neonröhre kam helles Licht, und es roch süßlichherb nach Weihrauch. Eine Ansammlung verschiedener Musikinstrumente nahm fast die ganze Breite des Raumes ein. Mir fielen sofort zwei karminrote Hängetrommeln auf, sie kamen mir riesengroß vor. Lichtfunken tanzten auf dem Lack. Die Fässer, mit gußeisernen Nägeln beschlagen, wiesen
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