Seidentanz
von selbst; ich bewegte mich seitwärts, als befreite ich mich von etwas. Ja, das war es auch, dachte ich mit einem Rest von Klarheit; ich habe die Form in mir befreit, und diese Empfindung verschaffte mir sofort Erleichterung. Wie es vor sich ging, daß die Bewegungen entstanden, warum mein Körper sie genau im richtigen Rhythmus erfaßte, hätte ich nicht erklären können. Allein die Tatsache war wichtig, daß es so geschah. Immer, wenn ich mich von allem löste, wenn kein Gedanke mehr in mir war, wurde alles leicht und köstlich. Ich öffnete die Lippen und stieß die Töne aus, mit denen ich gewohnt war, meine Gesten zu begleiten. Steigende Vokallaute, tiefanhebend und volltönend.
Nach einer Weile erfaßte ich, daß ich beinahe keinen Atem mehr in mir hatte, daß mein Kreuz sich bog, mein Hinterkopf fast die Matte berührte. Schlaff sank ich zurück. Erschöpfung.
Doch nur kurz. Der Raum drehte sich, und über dem Raum drehte sich die schöne Holzdecke und weit darüber hinaus, in ständiger Kreisbewegung, drehte sich der Himmel. Wieder hörte ich den Sington, doch er kam nicht mehr aus mir heraus; er kam von irgendwoher, von draußen. Es war ein leitendes Echo, eine langsam dahinschreitende Beschwörung. Manchmal schwieg sie; dann wieder spürte ich sie um mich herum, wie ein in der Luft vibrierender Tonfaden, ein stets wiederkehrendes Thema. Ich war nie der Meinung gewesen, daß es problematisch sei, ohne Vorbereitung auf der Bühne zu stehen. Improvisation bedeutet ja keineswegs, daß man bei Null anfängt. Gewisse Muster waren mir schon lange vertraut. Also ließ ich sie durch mich hindurchschwärmen, wie sie wollten. Die Bewegungen, die sich in meinem Körper ansammelten, drangen durch meine Arme und Beine nach draußen. Mein Körper weitete sich grenzenlos. Die unsichtbaren Dinge in mir verbanden sich mit den Klängen, mein Herz gehorchte einem Rhythmus, meine Lunge einem anderen, meine Gliedmaßen einem dritten, und doch bildete alles eine Einheit. Das dauerte eine gewisse Zeit, bis ich ermüdete. Ich merkte es an unsichtbaren Zeichen, an einem Zittern in den Kniekehlen, an einem leichten Ziehen im Nacken. Eine Solonummer dauert kaum mehr als eine Stunde – der Körper hat seine innere Uhr. Um die schwebende, kreisende Welt zum Stehen zu bringen, richtete ich meine Augen auf die Windschraube auf dem Trommelfell, sah, wie sie sich langsam vibrierend beruhigte. Ich ließ die Bewegungen auslaufen, der breite Klang draußen wandelte sich ab, zögerte, senkte sich, verweilte ein paar Atemzüge lang, bis nur noch ein einziger, sehr tiefer Ton bestand. Ich hörte ihn leiser und leiser werden, empfand fast einen Schmerz, daß er schwieg, es tat mir in der Brust so weh. Ein plötzlicher Luftzug wehte vorbei.
Dann plötzliche Stille.
Ruhe, Benommenheit wie nach einem Schlag. Ich blickte verwirrt auf den Priester, der unbeweglich vor den Trommeln kniete. Ich sah, daß er fast gleichzeitig mit mir Atem holte und begriff, daß er es war, der mich mit seiner Stimme begleitet hatte.
Ich hörte mein eigenes Keuchen. Mein Haar hatte sich gelöst und fiel mir ins Gesicht. Ich tastete nach den Spangen und steckte es fest. Meine Haut hatte sich mit einem leichten Schweißfilm überzogen.
»Domo Arigato – vielen Dank«, stieß ich mit mattem Lä-
cheln hervor.
Ohne sich mit den Händen abzustützen, richtete sich Sagon mit einer einzigen Bewegung auf. Er öffnete die Tür und rief ein paar Worte. Dann kam er wieder zurück. Er hatte ein kleines, weißblau gemustertes Tuch in der Hand, das er mir reichte.
»Trockne dich ab. Paß auf, daß du dich nicht erkältest.«
Ich dankte, rieb mir Gesicht und Stirn trocken. Er nahm drei Sitzkissen, die in einer Ecke aufgestapelt waren, und warf sie auf den Boden. Mit einer Handbewegung forderte er mich zum Sitzen auf und betrachtete mich amüsiert, während ich in gerader Haltung vor ihm hinkniete. An der Tür ertönte ein Ge-räusch. Aiko brachte ein Lacktischchen mit drei großen Teeschalen. Dazu reichte sie uns zwei winzige Tellerchen mit braunem Bohnenquark. Sie ließ sich auf einem Sitzkissen nieder, wobei sie mir freundlich zunickte. Dankbar nahm ich die Schale, die größer war als üblich und nur bis zu einem Drittel mit einem tiefgrünen, dickflüssigen und schaumigen Tee ge-füllt. Ich ließ den Tee im Munde zergehen. Er schmeckte lauwarm, bitter, wie ein Zaubertrank, energiespendend, magisch und einzigartig-Aiko lächelte mir zu.
»Oishii? –
Weitere Kostenlose Bücher