Sein Anteil
Wohin er gehen würde, wusste er noch nicht. Vielleicht nach Italien? Er hatte eine halbe Million Pfund. Er konnte hingehen, wohin er wollte.
Willem fiel wieder jener merkwürdige Moment vor zwei Jahren ein, als er gerade seinen Job in Paris verloren hatte, und er aus der Stimmung heraus, grenzenlos frei zu sein, von einer Sekunde auf die andere entschieden hatte, sein Glück in London zu suchen. Jetzt spürte Willem nichts von jener Euphorie. Er war nicht frei. Er musste gehen, obwohl er lieber bleiben würde, auch wenn er sein Glück in London noch nicht gefunden hatte.
Willem wollte in jedem Fall vermeiden, dass seine Abreise wie eine Flucht aussehen könnte. Er nahm sich vor, alle Formalitäten, die bei einem Auszug notwendig sind, ordnungsgemäß zu erledigen. Seine Vorbereitungen begannen damit, die viereinhalb mal dreieinhalb Quadratmeter, die in den letzten zwei Jahren sein Zuhause waren, akribisch aufzuräumen. Er trennte sich von allem, was er nicht mehr brauchte. Und das war fast alles, was er besaß. Er stopfte die überflüssigen Dinge in schwarze Mülltüten, zusammen mit Pias abgelegten Sachen sowie Nikitas blutverschmierten Kleidungsstücken. Er würde die Tüten an irgendeinem Supermarkt in einem dieser Container verschwinden lassen, in denen Kleidung für die Dritte Welt gesammelt wurde.
Das, was er behielt, passte in einen Koffer und eine Reisetasche. Hinzu kam die schwarze Sporttasche der Hewitts mit seinem Anteil. Nur mit dem Revolver wusste Willem nicht, wohin. Wegwerfen wollte er ihn nicht. Vielleicht könnte er doch das Ding eines Tages gebrauchen, dachte er. Er ließ ihn auf dem blank geputzten Tisch liegen.
Noch langsamer als üblich ging Willem die Old Brompton Road Richtung South Kensington herunter. Jedes einzelne Haus in der Straße versuchte er sich einzuprägen wie die Zeilen eines Gedichts, das einem gefällt und das man auswendig lernt, um es in einer Stunde der Muße halblaut zu wiederholen.
Das Maklerbüro war am unteren Ende der Old Brompton Road. Die Angestellte, der Willem seinen Auszug ankündigte, reagierte äußerst unfreundlich. Sie verlangte, dass Willem die Miete bis zum Quartalsende, also für weitere zehn Wochen, zahlte, gleich ob er die Wohnung weiter nutzte oder nicht. Auch verweigerte sie ihm die Herausgabe der Kaution. Sie würde zur Deckung der Kosten für die notwendige Reinigung herangezogen, lautete ihre Begründung, ohne das Appartement gesehen zu haben. Zusätzlich verlangte sie zwei Wochenmieten Bearbeitungsgebühr.
Willem wäre es ein Leichtes gewesen, ihre vertragswidrigen Forderungen zurückzuweisen. Aber ihm fehlte die Kraft zu einer Auseinandersetzung. Er akzeptierte deshalb zur großen Überraschung der Angestellten alles, was sie verlangte. Willem fragte nur freundlich, ob es recht sei, wenn er den noch offen stehenden Betrag sofort und bar begleiche. Die Angestellte monierte zwar, dass sie dann eigens zur Bank gehen müsse, um das Geld einzuzahlen, nahm aber die sauberen Fünfzig-Pfund-Noten gierig entgegen – gemeinsam mit Willems Dank und seinem Versprechen, den Schlüssel innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in dem Maklerbüro abzugeben.
»Ich kann mich darauf verlassen?«, fragte sie Willem mit ihrer tiefen maskulinen Stimme.
» Selbstverständlich.«
»Na gut, dann will ich Ihnen mal glauben.«
Anschließend kaufte sich Willem eine Auswahl von Zeitungen und ging noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, ins »Raison d’être«, gleich um die Ecke. Nur einer der kleinen Aluminium-Tische war unbesetzt. An den anderen hatten hübsche französische Teenager große Runden gebildet und schnatterten wild durcheinander. Es störte ihn nicht, dass er wegen des Lärms nicht zum Lesen kam. Er blätterte die Zeitungen eilig durch, ohne Nikitas Namen zu entdecken. Auch über Hewitt fand er nichts, zu seiner Erleichterung. Willem seufzte. Doch nichts war vorbei. Er musste London verlassen.
Die Gruppe am Nachbartisch regte sich über die angebliche Ungerechtigkeit eines Lehrers auf, der seine Schüler, wie ein Junge unter der lauten Zustimmung seiner Freunde konstatierte, wie Sklaven behandelte. Die Jungen und Mädchen fassten den Beschluss, das erlittene Unrecht dem Lehrer heimzuzahlen. Doch wussten sie nicht recht, auf welche Weise. Die einen wollten dem Lehrer mit einem Streich eins auswischen, die anderen plädierten für organisierten Protest.
Willem spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, den Schülern seinen Revolver anzubieten.
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