Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Bus seine Sightseeing-Runde ab und kollidierte dabei fast mit einer der alten Straßenbahnen. Er hoffte für die Touristen, dass sie so gescheit sein würden, nicht im Gaslamp Quarter auszusteigen.
»Mr. Dulwater.«
Er hatte nicht einmal die Tür gehört, aber als er sich umdrehte, war Kosigin schon auf halbem Weg zu seinem Schreibtisch. Seine Augen waren allerdings nicht auf Dulwater gerichtet, sondern auf den Fernseher und den Aktenkoffer. Den Aktenkoffer durfte Dulwater eigentlich nicht aus der Hand geben. Dadurch wurde zwar jeder Gang zum Klo zu einer interessanten Herausforderung, aber so lauteten nun einmal die Anweisungen. Dulwater ging zum Tisch und nahm den Aktenkoffer wieder an sich. Ehe er den Schreibtisch erreichte, hatte Kosigin eine Schublade aufgeschlossen und eine Fernbedienung herausgeholt. Er richtete sie auf das Fernsehgerät und stellte den vorherigen Sender wieder ein. Fast hätte sich Dulwater entschuldigt, aber nur fast. Wer sich entschuldigte, manövrierte sich in eine ungünstige Position. Und außerdem – was hatte er schon verbrochen?
Er setzte sich Kosigin gegenüber hin und sah zu, wie er die Fernbedienung in die Schublade zurücklegte und diese mit einem Schlüssel wieder abschloss, den er sich dann in die Westentasche steckte. Ein paar Sekunden lang bekam Dulwater nichts anderes geboten als die Draufsicht von Kosigins Kopf mit seinem dichten graumelierten Haar, gelockt und üppig. Vielleicht ließ er es sich färben, um älter auszusehen. Als er aufschaute, wirkte er mit seinem rosigen, gesunden Teint, den blitzenden Augen und dem vollkommen faltenlosen Gesicht fast wie ein Teenager. Sein burgunderroter Schlips strahlte pure Lebenskraft aus. Dann setzte Kosigin die stahlgerahmte Brille auf und verwandelte sich wieder. Er brauchte sein Gesicht nicht extra zu verhärten; das erledigte die Brille für ihn. Und die Stimme – sie war Autorität pur.
»Also dann, Mr. Dulwater.«
Was Dulwaters Stichwort war, den Aktenkoffer aufzuschließen. Er holte einen Schlüssel aus seiner Jackett-Tasche und schlüpfte aus dem linken Schuh, um den zweiten Schlüssel von seiner linken Strumpfferse abzupellen, wo er ihn mit Klebestreifen befestigt hatte. Der Koffer war feuer-, bomben- und einbruchsicher; wenn man versuchte, ihn ohne die beiden Schlüssel zu öffnen, vernichtete ein kleiner Brandsatz den gesamten Inhalt. Dulwater öffnete den Koffer, ohne sich zu beeilen; während er darauf wartete, dass der Detektiv die Akte auf seinen Schreibtisch legte, vermied Kosigin jeden Blickkontakt. Bei ihrem ersten Treffen hatte Dulwater ihm die Akte hingehalten, und Kosigin hatte wie eine Schaufensterpuppe dagesessen und sich nicht gerührt, bis Dulwater begriffen hatte, was von ihm erwartet wurde: Kosigin wollte keinerlei physischen Kontakt mit dem Detektiv, nicht einmal den indirekten über einen Aktendeckel. Also legte Dulwater jetzt die Akte auf den Schreibtisch, und sobald er die Hand zurückgenommen hatte, zog Kosigin die Akte etwas näher zu sich heran, öffnete sie und blätterte sie durch.
Diesmal war es ein dicker Bericht: weitere Infos zum persönlichen Background, Lebensläufe von Freunden, Kollegen, Angehörigen. Die Zusammenstellung hatte Hunderte von Arbeitsstunden erfordert, dazu die Mitarbeit von Ermittlern in Europa. Sie war so gründlich wie nur irgend möglich.
»Danke, Mr. Dulwater.«
Und das war’s – kein Smalltalk, kein Drink, nicht einmal ein flüchtiger Blickkontakt. Alfred Dulwater war entlassen.
Sobald der Detektiv den Raum verlassen hatte, ging Kosigin mit der Akte zur Sitzecke und machte es sich in einem der Ledersessel bequem. Jedes Mal wenn er umblätterte, warf er einen kurzen Blick auf den Bildschirm, aber abgesehen davon galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Bericht. Er mochte Dulwater nicht – der Mann war zu groß und zu schwer von Begriff -, aber er musste zugeben, dass Allerdyce und seine Leute eine eindrucksvolle Leistung zeigten.
Er las den Bericht ein zweites Mal durch, in aller Ruhe. Er wollte schließlich keine falsche Entscheidung treffen – vor allem, da es eine so ernste Entscheidung werden konnte. Der Journalist James Reeve war inzwischen mehr als bloß eine lästige Fliege, und er wollte einfach nicht hören. Man hatte es mit Geld versucht; man hatte es mit Drohungen versucht; selbst mit körperlicher Gewalt. Aber der Journalist war entweder sehr dumm oder schlicht zu selbstsicher.
Kosigin las den aktualisierten Lebenslauf ein drittes Mal durch.
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