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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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besonders törichter. Im Augenblick reichte es häufig nicht einmal für ihn. Zu manchen Zeiten war er seiner Gönnerin, Lady Callandra Daviot, die ihm sein Auskommen sicherte, zutiefst dankbar. Das einzige, was sie sich als Gegenleistung von ihm erbat, war, daß er sie in alle Fälle einweihte, die sie möglicherweise interessierten… und davon gab es eine ganze Menge. Sie war eine Frau von großer Intelligenz und Neugier; sie hatte zu allen Dingen eine eigene Meinung und zeigte an der menschlichen Natur in all ihren Spielarten großes und im allgemeinen von Toleranz geprägtes Interesse. In der Vergangenheit hatte Monk nur dann einen Fall übernommen, wenn sie glaubte, daß eine Ungerechtigkeit drohte oder bereits begangen worden war.
    Fürs erste beschloß er, eine Droschke zu nehmen, um Mrs. Stonefield in ihren eigenen vier Wänden aufzusuchen, wie er es versprochen hatte. Auf diese Weise würde er sich einen besseren Eindruck von ihr und dem finanziellen und gesellschaftlichen Status der Familie verschaffen und - wenn er den nötigen Scharfblick dafür besaß - auch Dinge entdecken können, die unter der Oberfläche lagen und möglicherweise eine Rolle spielten.
    Das Haus lag an der Upper George Street, an der Ecke Seymour Place, gleich östlich der Edgware Road. Er brauchte fast eine ganze Stunde von der Fitzroy Street in Bloomsbury über die Euston und Marylebone Road, so dicht war der Verkehr. Anschließend blieb ihm nichts anderes übrig, als in dem unablässig strömenden Regen auszusteigen und den Kutscher zu entlohnen. Es war fast vier Uhr, und die Laternenanzünder waren in der sich immer schneller herabsenkenden Abenddämmerung bereits eifrig am Werk.
    Er klappte seinen Mantelkragen hoch, ging den kurzen Weg zum Haus und klopfte an die Tür. Zu dieser Stunde hatten alle offiziellen Besucher das Haus bereits wieder verlassen, wenn sie überhaupt Besuch empfing.
    Er schauderte, drehte sich um und warf noch einen Blick auf die Straße. Es war eine ruhige und eindeutig respektable Gegend. Unzählige gleichförmige Fenster boten einen Blick auf gepflegte Vorgärten. Alles war peinlich sauber. Geschlossene Hinterpforten verbargen Kellerschächte für Kohle, Abfallbehälter, blankgeschrubbte Treppen, die in die Spülküche hinunterführten, und Hintereingänge für Händler und Lieferanten.
    Hatte Angus Stonefield hier leben wollen? Oder hatte er das Gefühl gehabt, in der Vorhersehbarkeit und der Besonnenheit seiner Existenz zu ersticken? Hatte seine Seele sich nach einem wilderen Leben gesehnt, nach Aufregung, nach etwas, das den Geist forderte und das Herz schneller schlagen ließ? Und war er bereit gewesen, als Preis dafür die Sicherheit, die Geborgenheit in seiner Familie zu opfern? War es ihm zu guter Letzt verhaßt gewesen, jeden Morgen seine Nachbarn zu grüßen, treu für seine Familie zu sorgen, jeden Tag, jedes Jahr vorausgeplant bis ins hohe ehrbare und ereignislose Greisenalter?
    Ein scharfer Stich durchzuckte Monk, weil diese Möglichkeit so gut denkbar war. Stonefield wäre nicht der erste Mann gewesen, der vor der Realität der Liebe und der damit verbundenen Verantwortung davongelaufen wäre, um nach etwas zu greifen, das ihm zuerst wie Freiheit erschien, nur um sich später als Einsamkeit zu entpuppen.
    Ein neuer Regenschauer durchnäßte ihn bis auf die Haut, und als er sich wieder dem Haus zuwandte, öffnete sich die Tür. Ein blondes Stubenmädchen sah ihn fragend an.
    »William Monk ist mein Name, und ich möchte mit Mrs. Stonefield sprechen«, erklärte er und ließ seine Karte auf das Tablett fallen, das sie ihm hinhielt.
    »Ich glaube, sie erwartet mich.«
    »Ja, Sir. Wenn Sie so freundlich wären, im Damenzimmer zu warten, werde ich nachsehen, ob Mrs. Stonefield zu Hause ist«, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück, um ihn einzulassen.
    Monk folgte ihr durch den hellen, freundlichen Flur in das besagte Damenzimmer. Während er dort wartete, hatte er Gelegenheit, sich umzusehen und Stonefields Charakter und Lebensumstände ein wenig besser kennenzulernen - obwohl die vorderen Zimmer, in denen die Gäste empfangen wurden, die letzten Räume wären, in denen man etwas bemerken würde, falls er in Geldnot steckte. Er hatte Familien gekannt, die es sich nicht leisten konnten zu heizen und kaum anderes zu essen hatten als Brot und Haferbrei und doch die Fassade des Wohlstands aufrechterhielten, sobald ein Besucher kam.
    Großzügigkeit, ja sogar Extravaganz wurden zur Schau

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