Sein Bruder Kain
Während er sprach, schaute er an dem jungen Mann vorbei und sah sich im Büro um. Alles hier ließ Wohlstand erkennen. Mehrere Angestellte beugten sich eifrig über Akten, Rechnungen und Geschäftsbriefe an andere Häuser, möglicherweise auch solche in Übersee. Sie waren alle gut gekleidet, mit steifen, weißen Kragen und ordentlich geschnittenem Haar, und sie wirkten gewissenhaft und durchaus zufrieden mit ihrer Arbeit. Nichts war schäbig oder reparaturbedürftig. Es lag keine Entmutigung in der Luft, nur Besorgnis, die aus den verstohlenen Blicken sprach, die die Männer einander gelegentlich zuwarfen.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem jungen Mann zu.
»Wann war Mr. Stonefield das letztemal im Büro?«
»Vor drei Tagen, Sir. Am Morgen des Tages, an dem…« Er biß sich auf die Lippen, »… an dem er zum letztenmal gesehen wurde.« Er lockerte ein wenig seinen engen Kragen. »Aber wenn Sie wissen wollen, was sich an diesem Morgen ereignet hat, müssen Sie Mr. Arbuthnot fragen, und der ist im Augenblick nicht da. Ich bin wirklich nicht in der Lage, Ihnen noch mehr zu erzählen. Das Ganze ist eine… nun ja, eine Geschäftsangelegenheit, Sir.« Er wirkte kleinlaut und fühlte sich offensichtlich unwohl in seiner Haut, während er immer wieder von einem Fuß auf den anderen trat.
Monk glaubte nicht, daß er hier noch irgend etwas von Wichtigkeit erfahren konnte, und war es durchaus zufrieden, die Sache für den Augenblick auf sich beruhen zu lassen. Aber bevor er sich verabschiedete, ließ er sich die Adresse von Mr. Titus Niven geben, des Mannes, der wegen Angus Stonefields Geschäftstüchtigkeit nicht mehr im Geschäft war.
Monk verließ das Kontor und ging in dem scharfen Wind mit schnellen Schritten über die Waterloo Road zurück.
Er war immer noch davon überzeugt, daß Angus Stonefields Verschwinden höchstwahrscheinlich persönliche Gründe hatte, und deshalb mußte Monk so viel über sein Privatleben in Erfahrung bringen, wie er nur konnte. Er hatte jedoch keinen vernünftigen Vorwand, um mit den Nachbarn zu sprechen oder sie gar nach Stonefields Gewohnheiten zu befragen. Das wäre auch kaum wirklich im Interesse seiner Klientin gewesen. Das allerletzte, was sie in ihrer Situation gebrauchen konnte, war der Tratsch ihrer Nachbarn über das Verschwinden ihres Mannes.
Aber die Tatsache, daß kein Verbrechen vorlag, ja, daß nicht einmal ein als solches erkennbares Problem zutage getreten war, schränkte seinen Handlungsspielraum extrem ein. Die einzige Möglichkeit, die ihm im Augenblick offenstand, war der Versuch, in Erfahrung zu bringen, was die Diener aus den Häusern in der näheren Umgebung so redeten. Diener wußten häufig mehr, als ihre Herrschaften vermuteten. Sie wurden oft im selben Licht gesehen wie ein wichtiges Möbelstück, ohne das man zwar verloren wäre, dessen Anwesenheit jedoch keine besondere Diskretion erforderte.
Er näherte sich dem Fluß, der unter dem winterlichen Himmel fahl schimmerte. Nebelschwaden stiegen auf, ließen die scharfen Kanten der dunklen Kieselsteine am Ufer weicher erscheinen und waren gesättigt vom scharfen Geruch der Abwässer, die die ablaufende Flut mit sich führte. Dunkle Kähne und Fährboote wippten auf den Wellen. Die Zeit der Ausflugsdampfer war noch lange nicht gekommen.
Er wünschte, er hätte John Evan bei sich gehabt, wie damals, als er nach seinem Unfall zur Polizei zurückgekehrt war und bevor er sich ein letztes Mal und endgültig mit Runcorn zerstritten hatte. Eine Sekunde bevor sein Vorgesetzter ihn hatte entlassen können, war er damals aus dem Raum gestürmt. Evan mit seinem Charme und seinem freundlichen Wesen verstand sich so viel besser als er darauf, den Menschen vertrauliche Informationen zu entlocken. Bei ihm vergaßen sie ihre natürliche Zurückhaltung und wurden mitteilsam.
Aber Evan war immer noch bei der Polizei, so daß Monk ihn nicht um Hilfe bitten konnte, außer, es handelte sich um eine Ermittlung, mit der auch sein früherer Kollege befaßt war, der ihm dann, obwohl es ein großes Risiko für ihn bedeutete, seine Informationen preisgab. Runcorn würde so etwas als persönlichen Affront und beruflichen Betrug auffassen und es Evan nie verzeihen.
Es war Monk schon mehrmals durch den Kopf gegangen, Evan eine Assistentenstelle anzubieten, irgendwann in der Zukunft, wenn seine Arbeit genug abwarf, um noch einen zweiten Mann ernähren zu können. Aber das war nur ein Traum, und vielleicht sogar ein
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