Sein Bruder Kain
Gewohnheit, ihn ab und an aufzusuchen«, erwiderte sie. Sie sah ihn durchdringend an, als sei die Bedeutung dieser Tatsache von solcher Wichtigkeit für sie, daß sie einfach nicht fassen konnte, daß sie nicht die gleiche Wirkung auf ihn hatte. »Seit ich ihn kenne«, fügte sie hinzu, und ihre Stimme wurde leiser und ein wenig rauh. »Sie müssen wissen, daß die beiden Zwillinge sind.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, daß zwei Brüder einander besuchen, Mrs. Stonefield.« Er bemerkte das nur deshalb, weil er keinen Grund für ihr bleiches Gesicht oder für die Anspannung ihres Körpers sah, während sie unbequem auf der Stuhlkante saß. »Ich gehe davon aus, daß Sie inzwischen mit der anderen Mrs. Stonefield Kontakt aufgenommen haben, um in Erfahrung zu bringen, ob Ihr Mann sicher dort angekommen und wann und unter welchen Umständen er wieder gegangen ist?« Es war mehr eine rhetorische Frage. Die Antwort glaubte er bereits zu kennen.
»Nein…« Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern.
»Wie bitte?«
»Nein«, erwiderte sie verzweifelt und sah ihn mit ihren großen blaugrauen Augen durchdringend an. »Angus' Bruder Caleb verkörpert alles, was mein Mann nicht ist - er ist gewalttätig, brutal, gefährlich, ein Ausgestoßener sogar in den Unterweltkreisen am Fluß hinter Limehouse, wo er lebt.« Sie stieß einen schaudernden Seufzer aus. »Ich habe Angus immer wieder gebeten, nicht zu ihm zu gehen, aber trotz allem, was Caleb ihm angetan hat, hatte er das Gefühl, ihn nicht im Stich lassen zu dürfen.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
»Wahrscheinlich gibt es zwischen Zwillingen ein ganz besonderes Band. Ich gestehe, daß ich persönlich das nicht begreifen kann.« Sie schüttelte ein wenig den Kopf, als wolle sie ihre eigene Qual leugnen. »Bitte, Mr. Monk, können Sie für mich herausfinden, was meinem Mann zugestoßen ist? Ich…« Sie biß sich auf die Lippen, aber ihr Blick flackerte nicht einmal.
»Ich muß Sie vorher nach Ihrem Honorar fragen. Meine Mittel sind begrenzt.«
»Ich werde Erkundigungen einziehen, Mrs. Stonefield.« Er begann zu sprechen, bevor er die Konsequenzen für seine eigenen Finanzen bedacht hatte. »Wenn ich Ihnen die Ergebnisse meiner Nachforschungen mitteile, können wir uns entsprechend arrangieren. Aber zunächst einmal brauche ich einige Informationen von Ihnen.«
»Natürlich. Ich verstehe. Es tut mir leid, daß ich kein Bild von ihm habe, das ich Ihnen geben könnte. Er hatte keine Lust, für ein Porträt Modell zu sitzen.« Sie lächelte mit einer plötzlichen Zärtlichkeit, in die sich verzweifelter Schmerz mischte. »Ich glaube, es wäre ihm ein wenig eitel erschienen.« Sie holte tief Luft und sprach schließlich mit sichtbarer Mühe weiter. »Er war groß, mindestens so groß wie Sie.« Es kostete sie sichtbar Kraft, sich zu konzentrieren, als wäre sie sich nur allzu deutlich der Tatsache bewußt, daß sie ihn vielleicht nie wiedersehen und sein Bild in ihren Gedanken schon bald an Klarheit verlieren würde.
»Er hatte dunkles Haar ja, seine Haarfarbe ähnelte ebenfalls der Ihren, aber seine Augen waren nicht grau, sondern von einem ganz besonders schönen Grün. Er hatte sehr ansprechende Züge, eine starke Nase und einen großen Mund. Er war ein sehr sanfter Mensch, überhaupt nicht arrogant - aber trotzdem wäre niemand je auf den Gedanken gekommen, sich Freiheiten ihm gegenüber herauszunehmen.«
Er war sich der Tatsache bewußt, daß sie von ihrem Mann bereits in der Vergangenheit sprach. Ihre Furcht und das Wissen um die Trauer, die ihr bevorstand, waren geradezu körperlich zu spüren. Er überlegte, ob er sich nach Stonefields finanzieller Lage erkundigen solle oder der Wahrscheinlichkeit, daß er sich eine andere Frau gesucht haben könnte. Aber er zweifelte daran, daß er eine Antwort von ihr erhalten würde, die objektiv genug war, um irgendeinen Wert zu haben. Die Frage würde sie nur unnötig quälen. Vernünftiger war es wohl, handfeste Beweise zu sammeln und sich eine eigene Meinung zu bilden.
Er erhob sich, und sie folgte seinem Beispiel; ihr Gesicht war starr vor Angst, aber sie hielt sich sehr aufrecht, als sei sie darauf gefaßt, ihn überreden zu müssen, ja ihn, wenn nötig, sogar anzuflehen.
»Ich werde sofort mit den Nachforschungen beginnen, Mrs. Stonefield«, versprach er ihr.
Augenblicklich entspannte sie sich und versuchte sogar zu lächeln, soweit ihr das in ihrer gegenwärtigen Situation möglich war. »Vielen
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