Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
jemanden, brauchte jemanden, mit dem er sprechen konnte, jemanden, der sie gekannt hatte. Ihm fiel niemand ein. Im Korridor war es warm, dennoch fröstelte er, zitterte und fühlte sich elend. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam. Was sollte er tun? Nach Hause fahren, zu seiner Familie, war das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, nachdem man ihm das Herz aus der Brust gerissen hatte. Es war Weihnachten, und er wusste nicht, wie er die Feiertage überstehen sollte. Tief in ihm war etwas gestorben.
Er hörte einen rasselnden Husten von der anderen Seite der Schwingtür; ein Flügel ging ein wenig auf, schloss sich wieder und wurde vollends geöffnet, als ob jemand Kraft gesammelt hätte, um hindurchzugehen. Er überlegte, dem Jemand zu Hilfe zu kommen, dachte dann jedoch: »Scheiß drauf.« Er wandte sich ab, zog den Mantel um sich und ärgerte sich über die Störung.
Eine alte Frau kam rückwärts herein. Ihr Regenmantel war durchweicht, ihr Hut mit Schnee bedeckt. In der Armbeuge klemmte ein Teddybär im schottischen Fußballtrikot, und eine Schottenmütze hing an einem Faden vom Kopf. Sie kam auf ihren dünnen Beinen langsam auf Vik zu und hustete und keuchte dabei.
»Ach, junger Mann, ach, junger Mann.«
Mulholland erhob sich und bot ihr seinen Stuhl, den einzigen, an und nahm ihren Ellbogen, um sie zu stützen.
»Was für ein scheußliches Wetter. Warum können die nicht das ganze Krankenhaus unter einem Dach haben? Ach, meine Beine. Gibt es hier eine Klingel, wo man sich melden kann?«
»Gleich kommt jemand.« Nachdem sie sich gesetzt hat, wandte Mulholland ihr den Rücken zu, denn er war immer noch wütend wegen der Störung.
»Wissen Sie, ich möchte meine arme Frances sehen.«
Mulholland drehte sich abrupt zu ihr um. »Wie bitte – wen?«
»Meine kleine Frances. Wegen ihr bin ich hergekommen. Will sie noch mal sehen.« Die Frau blickte Vik an, und er sah Tränen in ihren alten Augen.
»Ich möchte auch Frances sehen. Dann sind Sie Miss Cotter, ja? Ich bin … also, ich war ein Freund von Fran.«
Miss Cotters Gesicht verzog sich zitternd zu einem Lächeln. »Ein Freund von Fran?« Sie beugte sich vor und streckte ihre mit Falten bedeckte Hand nach ihm aus, wobei sie den knochigen Zeigefinger vorreckte, und sah ihn aufmerksam an. »Sie sind Vik, nicht?«, sagte sie. »Ach, sie hat von Ihnen erzählt; sie hat immer von Ihnen erzählt. Sie hat Sie so gern gehabt …«
»Mich gern gehabt? Hat sie das gesagt?«
»Hat sie. Sie haben ihr schöne Blumen geschenkt, hat sie gesagt. Noch nie hatte ihr jemand Blumen geschenkt. Das hat sie sehr glücklich gemacht.«
Vik verkniff sich die Tränen. »Hoffentlich«, sagte er, mehr brachte er nicht heraus.
Miss Cotter rieb sich die Augen mit einem aufgeweichten Taschentuch, und Vik zog automatisch seines hervor, das sauber und frisch gewaschen war, und reichte es ihr.
»Danke sehr, danke sehr«, sagte sie und schniefte. »Ach, ich sehe schon, warum sie Sie gemocht hat – so ein netter junger Mann. Ihr Leben war ein Jammertal, wissen Sie, richtig hart. Waren nicht viele so nett zu ihr. Ich habe getan, was ich konnte, als sie ein kleines Mädchen war, obwohl, viel war das nicht …«
Vik fragte sich gerade verzweifelt, ob er es hinaus schaffen würde, ehe er die Fassung verlor, als er Schritte von draußen hörte, die sich der Tür näherten, und dann trat Gail Irvine ein.
»Ach, super«, sagte sie. »Genau nach Ihnen habe ich gesucht.«
Gail Irvine ging hinüber zu Miss Cotter, hockte sich vor sie hin und nahm die Hände der alten Frau. »Miss Cotter«, begann sie, »Miss Cotter, ich muss Ihnen etwas mitteilen.«
Die roten Augen blickten sie verständnislos an. »Und zwar?«
Gail zögerte und räusperte sich. »Miss Cotter, Sie erinnern sich doch, dass im Daily Record erwähnt wurde, wie Sie uns bei den Ermittlungen geholfen haben?«
»Moment – gestern, nicht wahr? Ich weiß nicht mehr …«
»Die haben uns gerade ein Fax geschickt.« Irvine faltete ein Blatt Papier auseinander. »Jemand in Australien hat den Artikel gelesen …«
Miss Cotter sah Gail direkt ins Gesicht, und ihre Augen blitzten auf, denn sie schien zu verstehen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kenne niemanden in Australien«, antwortete sie nur.
Irvine holte tief Luft und fuhr entschlossen fort: »Dieses Fax stammt von einem Jungen – er ist vierzehn, sagt er –, der die schottischen Zeitungen manchmal im Internet liest, weil sein Vater und sein Großvater aus Glasgow
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