Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
er kam, und als er deine Schritte hören konnte, hat er schon gefroren und war müde, hungrig und verängstigt. Schließlich ist er erst fünf, noch ein kleiner Junge. Das sollte man nicht vergessen.«
»Trotzdem hätte ich nachschauen sollen, Colin. Ich erinnere mich daran, die Kälte bemerkt zu haben, aber ich dachte, es läge an mir. Da bin ich einfach hoch in mein Atelier gegangen, in den zweiten Stock. Dorthin gehe ich immer, wenn ich mich wackelig auf den Beinen fühle. Weißt du, ich habe dort oben so viel Zeit mit Alan verbracht …«
»Ja, ich weiß. Doch dem kleinen Burschen geht es gut.« Anderson legte ihr die Hand auf die kalte knochige Schulter.
»Da sich das Wetter gebessert hat, kommen nun auch die ersten Hilfslieferungen durch«, verkündete ein Sprecher der Hilfsaktion »Spenden für Andy«. »Und die Kleider- und Nahrungsspenden der Menschen aus Glasgow sind auf dem Weg ins Krisengebiet.«
»Gott sei Dank. Endlich mal etwas Positives in den Nachrichten.« Helena versuchte, sich im Bett aufzusetzen, und er bemerkte, dass ihr anderer Arm auf das Doppelte angeschwollen war. Die Haut war dunkelrot, matt und pelzig wie Samt. Sie sah aus wie eine große Wurst, die zu lange gekocht worden war und nun bald platzen würde. Als sie sich bewegte, sah er den Verband um die Brust und die Schulter bis hoch zum Hals. Er bemühte sich, nicht hinzusehen.
»Ich habe dir aus dem Laden zwei Bücher mitgebracht – Kurzgeschichten von Annie Proulx und einen Roman von Margaret Atwood.«
»Besten Dank. Ich kann die blöden Frauenzeitschriften nicht mehr sehen. Zwanzig Methoden, wie Sie sich am besten mit Ihrer Cellulite anfreunden. «
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Jetzt war er so weit. »Und, wie geht’s?«
Sie zuckte mit den Schultern und fächerte mit dem Daumen die Seiten des Buches auf. »Wir müssen abwarten. Untersuchungen, Untersuchungen und …«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Blick schweifte über eine Mischung von Weihnachtskarten und Karten mit Genesungswünschen, die an einem Band über dem Bett hingen, und er tat so, als würde er sich dafür interessieren, wer was geschickt hatte.
»… und noch mehr Untersuchungen. Ich habe schon das Gefühl, kein Blut mehr im Körper zu haben.« Sie legte den Kopf auf das Kissen und sah ihn an, mit einem Ausdruck in den dunkelgrünen Augen, den er nicht recht zu deuten wusste. »Ich kann hier nicht schlafen. Vor halb fünf morgens schlafe ich nicht ein, und die wecken mich um halb sieben schon wieder mit einem Gebräu, das sie Tee nennen. Ich glaube, ich habe schon jede volle Stunde dieser Uhr gesehen.«
»Und wann kommst du nach Hause?« Er hatte die Frage ausgesprochen, ehe er darüber nachgedacht hatte, die einzige, die er hatte vermeiden wollen, weil sie auf das Offensichtliche hinauslief – es gab niemanden, zu dem sie nach Hause kommen konnte. Helena wandte sich dem Fenster zu und biss sich auf die Oberlippe.
»Sie lassen mich nicht gehen, weil niemand für mich sorgen kann.« Sie blinzelte und schaute durch das Fenster hinaus in die Freiheit. Sie war den Tränen nahe.
Die Frau im Bett gegenüber sah zu ihnen hinüber, erst auf Helena, dann, vorwurfsvoll, auf ihn. Er wünschte, die Glocke würde das Ende der Besuchszeit verkünden, damit er gehen könnte. Doch die Zeit dehnte sich endlos.
»Wenigstens kannst du jetzt nach Hause, dir eine Pause gönnen und ein schönes Weihnachtsfest feiern.«
»Vielleicht. Der Giftmischer ist uns bislang entwischt. Sarah McGuire geht es jeden Tag besser, doch das hat sie nicht uns zu verdanken. Das ist ganz und gar kein gutes Gefühl – eine unerledigte Sache, das sollte in unserem Metier nicht passieren.«
Helena nickte, und Anderson lächelte. Sie war die Frau eines Polizisten, sie verstand, ohne dass man es ihr erklären musste.
»Immerhin kannst du dich auf ein Weihnachten mit der Familie freuen. Und zwar ein ganz besonderes, nach dem, was ihr durchgemacht habt.«
»Ich bezweifle es. Mit Brenda kann ich nicht reden, und dabei gäbe es einige Dinge zu besprechen.«
Helena drückte seine Hand sanft. »Ich habe es geschafft, eine Ehe mit einem Polizisten zu führen. Vielleicht klappt das nicht bei jedem. Ich habe – hatte – mein eigenes Leben, meinen eigenen Beruf und meine eigenen Freunde. Alan hat jede Stunde gearbeitet, die ihm Gott geschenkt hat. Ich bin ein halbes Jahr lang nach Indien gefahren, bin herumgereist, habe gemalt und gezeichnet, und er hat nicht einmal mit der
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