Sein letzter Burgunder
abgehört werden. Henry stützte sich an einen Baum, als plötzlich etwas vor ihm in die Rinde knallte und ihm Borkensplitter ins Gesicht flogen. Instinktiv ließ er sich fallen …
18
Besuch bei Nacht
Henry verlor den Halt, er rutschte auf Blättern die Böschung hinab, griff mit den Händen in vermodertes Laub und Tannennadeln, er sah nichts mehr, das Laub wirbelte auf, und er strauchelte. Die Schwerkraft brachte ihn wieder auf die Beine, und er rannte weiter nach unten, duckte sich blitzschnell unter Zweigen, wich Ästen aus. Einer traf ihn im Gesicht, er fühlte den heißen Schmerz wie einen Schnitt, stolperte wieder, stürzte kopfüber und rollte sich ab, er fiel weich, rappelte sich auf, stürzte wieder, er rutschte noch ein Stück und glaubte zuletzt, in einer Mulde zu liegen. Er unterdrückte sein Keuchen. Die Verfolger konnten ihn hören, sie hatten einen Plan, ganz im Gegensatz zu ihm auf seiner kopflosen Flucht …
Mühsam versuchte Henry, die Dunkelheit zu durchdringen, aber er sah nur schwarze Baumstämme und darüber den hellen Schimmer des Himmels. Da hörte er weiter oben Laub rascheln, also folgten sie ihm noch immer, die Schritte wurden lauter, kamen aus zwei Richtungen. Die halb lauten Rufe näherten sich. Es waren zwei Stimmen. Italiener! Der BMW? Wenige Schritte entfernt war ein mächtiger Baum umgestürzt, Henry sah schemenhaft die senkrecht stehende Wurzel des gefallenen Riesen, da war eine Höhlung drunter, er wollte dorthin robben, dort gab es Schatten, tiefen dunklen Schatten. Er entschied sich dagegen, man hätte ihn aufstehen sehen, und der Ortswechsel hätte zu lange gedauert,also blieb er. Er häufte vorsichtig Laub über sich, machte sich so klein wie möglich, immer noch bedacht, seinen stoßweise gehenden Atem zu mäßigen, die Verfolger hörten sein Schnaufen sicher meilenweit. Zuletzt zog er ganz sacht einen belaubten Ast über sich und schmierte sich Erde ins Gesicht. Bei Tag hätte man an den trockenen und feuchten Blättern sofort gesehen, dass hier jemand lag, aber bei Nacht waren alle Blätter dunkel. Henry wand sich wie eine Schlange, um an das Mobiltelefon heranzukommen, und schaltete es ab. Es wäre sein Todesurteil, wenn es jetzt läuten würde. Er musste absolut bewegungslos hier liegen bleiben, er durfte sich nicht rühren, nicht niesen, nicht husten oder sich räuspern, nicht den geringsten Laut von sich geben. Sein Herz wummerte wie wahnsinnig, in seiner Nase kribbelte es, ein Krampf in der Wade kündigte sich an. Er wusste, dass die Verfolger genau wie er in die Dunkelheit lauschten. Im nächtlichen Wald hörte man alles, und nur wer sich bewegt, wird gesehen, sagte er sich, genau das, was Lobo ihm geraten hatte.
»Wenn du dich bewegst, bist du tot!«, hatte er gesagt.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erinnerte er sich an Lobo, den Einzelkämpfer, Sohn eines Dortmunder Bergmanns. Er sah ihn deutlich vor sich, mittelgroß und athletisch, kraftvoll und leichtfüßig, Henry hörte seine Worte, als stünde er neben ihm. »El Lobo« war sein Kriegsname, sein Deckname gewesen, der Wolf, Wolfgang. Er war Kommunist oder Revolutionär oder Guerillero, jedenfalls irgendwas davon, oder alles zusammen. In Barcelona wäre er Anarchist gewesen, und seine Parole hatte »alle Macht den Sandinisten« geheißen. Er hasste die USA.
Westdeutschland war seiner Ansicht nach nichts weiter als ihr Lakai. »Im Zweifel sind wir für die auch nichts anderes als dreckige Nigger oder Indianer, der Rest der Menschheit darf Baumwolle für sie pflücken.« Er hatte den Imperialismus aus tiefster Seele verabscheut, auch den russischen, den angeblich sozialistischen, und sich vor den Millionenvon Mitläufern angeekelt abgewandt. »Es ist den Herrschenden scheißegal, ob auf der Straße eine Million Menschen demonstriert und ob du eine Million Artikel gegen sie schreibst, Meyenbeeker«, er hatte ihn stets beim Nachnamen genannt, »nur vor Gewalt haben sie Angst.«
Lobo hatte nach dem Abitur bei der Bundeswehr die Ausbildung zum Einzelkämpfer absolviert – und war verschwunden. In Nicaragua und in El Salvador war er wieder aufgetaucht, hatte auf Seiten der Sandinisten und dann auf Seiten der Befreiungsfront FMLN in El Salvador gekämpft, war zum Ausbilder aufgestiegen, war Scharfschütze geworden – »nur wer sich bewegt, wird gesehen«, hatte er gesagt. »Wir haben Stunde um Stunde bewegungslos in unseren Löchern gelegen – da gab es Schlangen, giftige Spinnen, da kannst du
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