Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
Vom Netzwerk:
zu entwickeln, was hier einst geschehen war, was jetzt passierte und vielleicht geschehen würde. Und er musste nah an die Menschen heran: Wein war weit mehr als nur ein Getränk.
    Er war eine Philosophie, eine Lebensaufgabe, er war Sucht und Religion, Prestige und Können, etwas zum Renommieren   – ein immerwährender Zyklus, für eine wachsende Zahl von Winzern auch der Versuch, die Natur wieder zu verstehen,sie endlich mal »zu lassen«, ohne technisch an ihr herumzufummeln, sie zu asphaltieren und mit Pflanzen schutzmitteln zu traktieren.
Antiparasitarios
hießen sie auf Spanisch,
agrotóxicos
auf Portugiesisch. Henry hielt diese Bezeichnungen für klarer als die deutsche Bezeichnung, sie machten ihre Gefahr deutlich. Und Wein war darüber hinaus eine Weltanschauung, die Betrachtung der Welt durch die Augen des Winzers, seine Kunst, sein Handwerk, sein Broterwerb   – oder Industrieabfüllung.
    Er musste in ein Dorf, dort möglichst an den Rand, die beste Option war ein Winzerhof mit Gästezimmern. Hatte dieser Jürgen Templin nicht Zimmer vermietet?
    Aber dann stand er vor dem Dilemma, sich zu entscheiden: Wenn er sich als Weinjournalist zu erkennen gab, musste er sich möglicherweise vieles anhören, was mit dem Inhalt des Glases, das man ihm vorsetzte, nur bei größtem Wohlwollen in Einklang zu bringen war. Er konnte entweder Zustimmung heucheln, was er hasste. Oder nicht, dann betrachtete man ihn wie einen seiner anmaßenden Kollegen, die den Winzern erklärten, wie Wein schmecken musste und zu machen war.
    Seine Fragen hätten Henry auf jeden Fall entlarvt. An den Fragen erkannte man den Fragenden. Er erinnerte sich an einen französischen Winzer, der ihn an der Art, seine Weinstöcke zu betrachten, erkannt hatte. Legte er seinen Maßstab hoch an, fühlte sich mancher brüskiert, gekränkt. Lag die Messlatte zu tief, verlor er Zeit und musste sich schlechten Wein einschenken lassen. Und der verdarb ihm die Laune, genau wie schlechtes Essen.
    Der Gedanke an ein Mittagessen ließ ihn schneller fahren als erlaubt, die alte Bergkirche über Bahlingen sah er von weitem, schlängelte sich in nicht einmal drei Minuten durch den Ort und war nach weiteren fünf Minuten in Eichstätten, und einen Augenblick später sah er bereits das gelbe Ortsschild von Bötzingen vor sich. Templins Hof, so erinnerte sich Henry, lag oberhalb dieses langgestreckten Straßendorfesam Hang. Er hätte sich anmelden sollen, andererseits hatten viele Weingüter zwecks Proben geöffnet.
    Unschlüssig hielt er an einem Gasthaus mit dem sinnigen Namen »Rebstock«. Die gab es zuhauf, dazu die »Sonnen«, die »Löwen« und »Ochsen«. Am Tresen kannte niemand einen Jürgen Templin, was Henry sehr verwunderte. Der Wirt war abwesend, aber aus der Runde, die zum Frühschoppen versammelt war, wusste jemand, dass der Jürgen »nach dem Unglück« weggezogen war. Mehr wollte der Einheimische nicht sagen   – Henry solle auf seinem »ehemaligen Weingut« nachfragen   – und wies ihm den Weg.
    Die Rede vom »ehemaligen Weingut« und vom »Unglück« irritierte Henry, und befremdet folgte er den Anweisungen. Jetzt erkannte er die schmale Straße wieder. Sie führte am Ortsende links zwischen Apfelbäumen um einen Hügel herum unmittelbar auf den Hof zu. Die früher mit Wein bewachsenen Natursteinmauern, die dem Anwesen einen archaischen Charakter gegeben hatten, waren verputzt worden und weiß gestrichen, das alte Holztor war gegen eines aus Eisen ausgetauscht worden, es hätte zum Atelier eines mit Schrott arbeitenden Künstlers gepasst. Der Innenhof mit schwarzen Limousinen wirkte klinisch sauber wie eine moderne Produktionsanlage, nur die aufgemöbelte Korbpresse machte deutlich, was hier geschah. Die Wand neben der Eingangstür zum Wohnhaus, flankiert von Fächerpalmen, war für ein großes Schaufenster aufgebrochen worden. Was war in Jürgen Templin gefahren? Das konnte nicht sein Stil sein.
    Die Besucher im Probierraum entsprachen den Autos im Hof: cool, gestylt, reich und allwissend. Die junge Frau, die dort arbeitete, hätte in eine großstädtische Boutique gepasst, auf einem Weingut war sie in hautengen Jeans, hochhackigen Schuhen und tief ausgeschnittenem Top fehl am Platze. Sie wusste nichts von einem Jürgen Templin, der Besitzer heiße John Johansen, und von den erreichbarenMitarbeitern sei nur der Fahrer geblieben. Sie erwarte ihn jeden Moment zurück, er habe heute Weine zu einer Hochzeit nach Freiburg liefern müssen. Henry

Weitere Kostenlose Bücher