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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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Amarone, und dann die teuren Toskana-Weine, und gleichzeitig gab er seinen eigenen Newsletter heraus, so wie du. Nur bist du Journalist, du schreibst mehr und besser. Einige seiner Artikel habe ich beigelegt. Über die Ausbildung und dergleichen war wenig zu finden, und in einem Interview fand ich Anspielungen auf eine nicht so gelungene Jugend und irgendwelche Praktika in Australien und Italien. Deshalb hat er wohl auch zuerst über italienische Weine geschrieben.«
    Nachdem Dorothea Henry das Schlafsofa hergerichtet hatte und im Bad verschwunden war, machte er sich über das Dossier her. Es enthielt deutlich mehr, als er selbst gesammelthatte. Amber wurde in Exeter, Großbritannien, als Sohn eines Gemüsehändlers geboren. Über seine Kindheit und Jugend fand sich der Hinweis auf den autoritären Vater und auf schlechte Leistungen in der Schule, was aber über berufliche Chancen wenig aussagte, wie Henry schmunzelnd bemerkte. Bei ihm war es nicht anders gewesen. Neben der Schule hatte Amber im Weinladen vom Vater eines Freundes gejobbt und war dann zum Weinbaustudium nach Australien gereist. Ein Hinweis darauf, dass er das Studium abgeschlossen hatte, fand sich nicht, stattdessen war an anderer Stelle von einem Praktikum auf einem italienischen Weingut und dem Studium an der Landwirtschaftlichen Akademie in Neapel die Rede. In London begann der unaufhaltsame Aufstieg, wo er die »Alan Amber Ambitions« veröffentlichte und wo sein Hundert-Punkte-Schema sofort akzeptiert wurde. Bis dato hatte sich die englische Bewertung auf zwanzig Punkte beschränkt, wie auf dem Kontinent bei vielen Verkostern und Zeitschriften noch immer üblich.
    Hundertzwanzig bis hundertdreißig Weine soll er pro Tag probiert haben, aber die Anforderungen waren gewachsen, mehr und mehr Weine wurden Amber aus aller Welt zur Bewertung eingereicht. Deshalb hatte er sich ein Team regionaler Verkoster aufgebaut, die nach seinen Vorstellungen die Bewertungen vornahmen. Er hatte Italien und Bordeaux für sich reserviert   – da war am meisten Geld zu verdienen   – und sich dann auf das Burgund spezialisiert. Einen guten Pinot Noir zog er jedem anderen Wein vor. Um Weißweine machte er einen Bogen, wenn es sich einrichten ließ, deutsche Weine behagten ihm gar nicht, außer Riesling   – Süßweine oder Trockenbeerenauslesen fand man selten in seinem Magazin.
    Henry fand ein Zitat Ambers, das ihn auflachen ließ. »Große Weine werden von Leuten gemacht, die von der Liebe zum Wein getrieben werden, nicht von der Liebe zum Geld.«
    Liebe? Dieser Weinjournalist, eigentlich ein Kollege, sprach von Liebe? Dabei manipulierte er wissentlich die Kurse der Weine, die sich ausschließlich Lottogewinner und Menschen leisteten, die das Gegenteil von Liebe praktizierten. Und ein Wein für dreihundert Euro war höchstens um Nuancen besser als einer für dreißig. Menschen, die wirklich liebten, nahmen das große Wort selten in den Mund. Oder waren Banker und Investmentberater von der Liebe zum Geld getrieben, Ärzte von der Liebe zur Gesundheit, Banker von der Liebe zum Geld und Polizisten von der Liebe zur Ordnung? Die meisten Menschen, die Henry bisher getroffen hatte, übten ihren Beruf aus, weil sie hineingerutscht waren, nichts Besseres konnten, ein Weingut geerbt hatten, oder weil ihre Tätigkeit besonders einträglichwar. Ihn hatten die Abenteuerlust, seine Neugier und sein Gerechtigkeitssinn zum Journalisten gemacht, die Nase hatte ihn zum Wein geführt und die Liebe zur Natur in die Weinberge. Er liebte Isabella, aber ob er den Wein liebte? Er schätzte ihn, er genoss ihn, es war das ganze Drumherum, das ihn so interessant machte   – und die Menschen, die es verstanden, Trauben wachsen zu lassen und daraus einen Wein zu keltern.
    Jürgen Templin war einer davon. Er hatte hervorragende Ergebnisse erzielt, und in den bekannten Weinführern war auf den ersten Seiten über ihn berichtet worden, dekoriert mit Sternen und Trauben. Noch beim Einschlafen beschäftigte Henry die Frage, weshalb er urplötzlich abgetaucht war.

4
Das Rollenspiel
    Es war ein elender Morgen. Henry hatte schlecht geschlafen, es schmerzte ihn, Dorothea in ihrem Zustand allein gelassen zu haben. Auf die kalte Luft aus der Klimaanlage seines Leihwagens reagierte Henry mit stechenden Halsschmerzen, ausgerechnet jetzt, vor einer wichtigen und spannenden Verkostungsrunde. Ein Schnupfen würde ihn vollends lahmlegen. Es war die Pest. Und zu allem Übel schloss eine Baustelle an die

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