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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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junge Frau wies auf Henry, der Fahrer drehte sich um.
    »Sie woll’n mich sprechen?«
    Henry erinnerte sich nicht, den Mann hier zuvor gesehen zu haben. Er stellte sich vor und äußerte den Wunsch, Templin zu treffen, für den er noch gearbeitet habe.
    Das löste beim Fahrer einen inneren Alarm aus. Er ging auf Abstand, seine Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde, sein Blick irrte ausweichend durch den Raum, als suche er einen Fluchtweg, dann machte er sich drohend breit.
    »Sind Sie Anwalt?«
    Als Henry erklärte, Journalist zu sein, verstärkte sich die feindliche Haltung.
    »Was woll’n Sie von ihm? Lassen Sie ihn in Ruhe, der arme Kerl ist sowieso vom Schicksal gezeichnet.«
    »Was heißt das? Als ich zuletzt da war, lebte er hier mit Frau und Sohn und Mitarbeitern. Dieser Raum«, Henry machte eine ausholende Geste, »war der Korridor. Dort drüben«, er wies auf die Tür hinter dem Tresen, »da ging’s in die Küche, und   …«
    »Ich glaub’s Ihnen ja. Is gut. Sie wissen nich, was passiert is?« Der Fahrer glaubte Henry offensichtlich nicht.
    »Weshalb sollte ich sonst fragen!« Henry unterdrückte seinen Ärger. Er bemerkte, dass die anderen Kunden sich ihnen neugierig zuwandten.
    »Frau und Sohn sind tödlich verunglückt, sie saß am Steuer und is gegen den Baum gerast, direkt vor der St.-Vitus-Kapelle, zwischen Wasenweiler und Ihringen, da kommt ein Feldweg   …«
    Als der Fahrer bemerkte, dass andere zuhörten, packte er den verblüfften Henry am Arm. »Kommen Sie«, sagte er leise, »die Geschichte is nix für Fremde.« Er zog ihn ins Büro nebenan.
    »Wie ist es zu dem Unfall gekommen?«, fragte Henry, das Geschehene entsetzte ihn immer noch. »Wann ist das passiert?«
    »Oh, das is   – ja, höchstens vier Jahre is das her, ja, es war auch Sommer, ich weiß noch, ein Abend   …«
    »Und warum ist sie gegen den Baum gefahren?« Kaum hatte Henry die Frage ausgesprochen, wurde ihm bewusst, wie dumm es war, das zu fragen. Warum? Auf diese Frage bekam man nie eine richtige, wohl aber fünf mögliche Antworten. Ein Reh konnte aus dem Wald gesprungen sein, ein Wildschwein, ein Reifen war geplatzt, eine Wespe im Auto   …
    »Den Grund? Sie war einfach nur zu schnell, sie hatte ja achtzig Sachen drauf, in der Kurve. Alle rasen auf der Landstraße. Frau Templin wollte den Jungen nach Ihringen fahren. Sie waren zu spät. Er sollte bei einem Kollegen irgendwas am Computer machen. Nur komisch war, dass sie   … es war auch kein Defekt am Wagen. Nix mit den Bremsen. Sie hat einfach nur die Kontrolle verloren.«
    Für Henry hörte es sich wie eine unbeteiligt heruntergeleierte Erklärung und auch wie eine Entschuldigung an   – ohne die geringste innere Beteiligung, ohne Mitgefühl.
    »Und   – Herr Templin?«
    »Eine Katastrophe. Er hat sich aufgegeben. Er ist zusammengebrochen, er war zu schwach. Man musste ihn zum Essen zwingen, damit er am Leben bleibt. Jetzt trinkt er.« Der Fahrer zog abfällig die Mundwinkel nach unten und rümpfte die Nase. »Wissen Sie, um ehrlich zu sein, das Leben is kein Zuckerschlecken, man muss hart sein. Vielen Menschen passiert was Schreckliches. Mein Vater is früh gestorben, und trotzdem hat meine Mutter nich den Boden unter den Füßen verloren. Wäre Herr Johansen nich gewesen, dann hätte Templin nix mehr zu beißen. Er muss ihm dankbar sein.«
    »Wer bitte ist Johansen?«
    »Na, der jetzige Besitzer dieses Weingutes. Er hat ihn sozusagen gerettet, hat nichts verkommen lassen. Wir alle müssen Prüfungen bestehen, das ganze Leben ist eine. Andere haben auch Angehörige verloren, aber sie lassen sich nicht so gehen. Templin hat nur gejammert und alles verkommen lassen. Hätte Johansen sich nicht so für ihn eingesetzt   – jeder andere hätte ihn nach Strich und Faden betrogen. Der Jammerlappen sitzt nur noch da und säuft   – wo er den Sohn nicht mehr hat, seinen Goldjungen, den Thronfolger, der alles erreichen sollte, was er nicht geschafft hat. Hinten und vorne hat er’s ihm reingesteckt.« Der Neid war nicht zu überhören.
    Was sollte Templin nicht geschafft haben? Henry hatte ihn als sehr zufriedenen und engagierten Menschen in Erinnerung. Als der Fahrer weiter von Johansens Wohltaten redete und davon, was Templin ihm zu verdanken habe, hörte Henry weg. Er dachte an den anfänglichen Fluchtimpuls des Fahrers. Was mochte sich hier wirklich abgespielt haben?
    »Hat Johansen alles gekauft, die Grundstücke, die Weinberge und auch die

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