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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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nächste, nur von kurzen freien Stücken unterbrochen. Die zweihundertfünfzig Kilometer bis zum Kaiserstuhl fuhr Henry mal auf zwei Spuren, dann sogar auf einer, weil ein LKW liegen geblieben war. Glücklicherweise hatte er einen Teil seiner Musterflaschen bei Meier im Lager der Vinothek lassen können, und so blieb der Wagen einigermaßen beweglich. Aber die Autobahn war ein Kreuz, voll wie nie. Hatte sich das ganze Land auf den Weg nach Süden gemacht? Fand in der Schweiz ein Caravan-Treffen statt oder holten die Holländer ihr Schwarzgeld in Zürich ab?
    Fünf Stunden dauerte die Tortur, in denen Henrys Laune trotz der Hitze weit unter den Gefrierpunkt sank, bis sich im feuchten Dunst des Oberrheingrabens, zwischen Schwarzwald und Vogesen, eine blasse Hügelgruppe abzeichnete. Im Stau brütend versuchte Henry sich vorzustellen, wie es hier vor zwanzig Millionen Jahren ausgesehen haben mochte, als sich zwischen schräg stehenden Erdplatten kleine Vulkane auftaten und Feuer und Rauch, Lava und Tuffgestein ausspien.Vor zwei Millionen Jahren dann waren der Schwarzwald und die Vogesen weiter angestiegen, hochgedrückt von tiefer liegenden Erdplatten, bis Schmelzwasser sich im Rhein sein Bett gesucht und von den Alpen Geröll, Sand und Steine mitgebracht hatte. Stürme bliesen den feinen Sand aus den Schotterflächen heraus und häuften ihn rings um die erloschenen Vulkane auf. Der Kaiserstuhl war geboren. In einer Computersimulation ließe sich das sicher gut darstellen   … da riss die Hupe des Hintermannes Henry aus den Gedanken, und er rollte fünf Autolängen weiter   …
    Der Schwarzwald, der Henry seit Offenburg begleitete, wirkte schwarz und massig. Ganz anders zeigten sich die in Äonen abgeflachten Berge auf der anderen Seite, bei denen oberflächlich betrachtet nichts mehr auf ihre Entstehungsgeschichte hindeutete. Sie waren sein Ziel, die Autobahntortur würde ein Ende finden, und die Landstraße würde eine Erholung und bei weitem interessanter sein. Henrys Laune stieg so weit an, dass er den Eindruck gewann, dass sogar der Wagen schneller anfuhr. Am meisten hatte er sich im Stau darüber geärgert, dass er sich über einen Zustand aufregte, an dem doch nichts zu ändern war. Das Schicksal der Massengesellschaft erfüllt sich auf der Autobahn, dachte er und nahm die nächste Ausfahrt.
     
    Als Rigola hatte das Dorf Riegel den römischen Besatzungstruppen bereits vor zweitausend Jahren als Verwaltungszentrum für den Breisgau gedient, heute wurde das Dorf ausschließlich von den verbliebenen Dörflern und den vielen Pendlern, die in Freiburg arbeiteten, bewohnt. Henry erinnerte sich, vor einigen Jahren hier gewesen zu sein, am nordwestlichsten Zipfel des Kaiserstuhls   – und doch nahm er eine falsche Abzweigung, die ihn an einem Kanal entlang und dann über eine Brücke in den Ort führte statt hinter ihm vorbei. An die großen weißen Industriebauten der Gründerzeit neben der Brücke   – eine stillgelegte Brauerei   – meinteHenry sich zu erinnern, aber er wusste, wie leicht man das Markante mit dem Bekannten verwechselte.
    Er musste sich mit Tempo dreißig durch den Ort schlängeln. Wo er über Nacht bleiben würde, war ungewiss, in Riegel sicher nicht. Es gab zwar ein Schlösschen und eine schöne Kirche, aber zwischen den ein- und zweistöckigen Fachwerkhäusern herrschte für seinen Geschmack zu wenig Betrieb. Etwa hundert Weinbaubetriebe sollte es in Riegel geben, deren Besitzer nach Feierabend ihren halben Hektar Müller-Thurgau mit Hingabe pflegten und die Trauben bei der Genossenschaft ablieferten.
    Endingen und Ihrigen waren ihm von Meier empfohlen worden, wie er sich erinnerte, auch Dorothea hatte die beiden Orte als die belebtesten genannt. Er hatte sich vor der Reise im Internet schlau zu machen versucht, war aber wegen der widersprüchlichen Angaben verwirrter als vorher gewesen und wollte die Entscheidung erst vor Ort treffen. In Baden-Baden war während der Challenge ein Fünf-Sterne-Zimmer für ihn reserviert.
    Hier in Riegel fühlte er sich außerdem zu weit vom Kaiserstuhl entfernt, irgendwie an den Rand gedrängt. Aber er musste hinein in diese Landschaft aus Wald, Höhe und Tal, wo der Kirchturm nicht einmal über den nächsten Gipfel ragte, anders als der Fernsehturm auf dem Totenkopf, dem höchsten Berg. Henry musste die Landschaft fühlen, sie begreifen, sich in ihr bewegen, um den Wein zu verstehen, er wollte die Rebstöcke sehen, er wollte versuchen, ein Gefühl dafür

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