Sein letzter Fall - Fallet G
unter der Haut kribbeln. Schließlich waren ja sowohl Münster als auch Rooth vor Ort, um den Mord an Verlangen aufzuklären, und wofür Beate Moerk gut war, das wusste er schon seit langem.
Was hatte er dann noch hier zu suchen? Sollte er nicht zumindest lieber abwarten, bis sie eine Spur von G. gefunden hatten? Es gab nichts, was er zu diesem Zeitpunkt hätte ausrichten können, was die ermittelnden Beamten nicht ebenso gut tun konnten. Dieser Wahrheit konnte er ruhig ins Auge sehen. Er hatte es unterlassen, am gestrigen Tag mit ihnen Kontakt aufzunehmen – hatte nur Bausen mitteilen lassen, dass er vor Ort war –, und er wusste, dass er auch an diesem Tag seinen Fuß nicht ins Polizeigebäude setzen würde. Es sei denn, sie würden ihn ausdrücklich darum bitten.
Also wieder Privatschnüffler, dachte er verbittert. Der alte ehemalige Kriminalhauptkommissar, der im Fahrwasser des gewaltsamen Todes eines ehemaligen Privatdetektivs herumplätschert. Ja, ja. Um das einzige noch verbliebene Missgeschick seiner Karriere aufzuklären. Pathetisch?
Vielleicht schon. Es gab so einen roten Faden, an diesem Morgen war er ganz deutlich zu verspüren, aber wenn schon, er konnte wegen diesem verfluchten Hennan nicht schlafen!
Und wenn sie ihn wirklich fanden?, dachte er plötzlich. Wenn er tatsächlich Jaan G. Hennan leibhaftig gegenübertreten würde? Was passierte dann? Was sprach denn dafür, dass er dieses Mal den Sieg davontragen würde?
Nicht viel. Weiß Gott nicht viel.
Er blieb stehen und zog sich Schuhe und Strümpfe aus. Es ist genau wie vor fünfzehn Jahren, dachte er. Ganz genauso… Wenn wir G. in Kaalbringen finden, dann ist das gleichbedeutend damit, dass er an Verlangens Tod schuld ist. Ich weiß es. Ich werde dasitzen und in die Augen eines Mörders starren und begreifen, dass ich ihn wieder laufen lassen muss. Zum zweiten Mal. Das ist nicht auszuhalten, aber es spricht einiges dafür, dass es so kommen wird, oder?
Er trat eine zurückgelassene Apfelsinenschale ins Wasser.
Verdammter Mist, dachte er, ich sollte die Sache in die eigenen Hände nehmen.
Der Gedanke kam ihm, ohne dass er ihn gewollt hatte. Er schob ihn wieder beiseite. Nicht dieses Mal, beschloss er. Nicht noch einmal. Diese moralische Geheimtür, die bedeutete, dass man das Gesetz umging, um Gerechtigkeit walten zu lassen, die hatte er schon einmal geöffnet… ein einziges Mal, und hinterher war ihm klar gewesen, dass das ein Ausweg war, dessen man sich nur einmal im Leben bedienen durfte. Wenn überhaupt.
Damals hatte das unschuldige Opfer Verhaven geheißen. Jetzt hieß eines der Opfer Verlangen. Fast der gleiche Name, aber das war natürlich nur ein Zufall. Nichts, was als ein Hinweis oder ein Fingerzeig gedeutet werden konnte.
Er erreichte den alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Halb im Sand versunken und halb vom Zahn der Zeit zernagt, lag er da oben unterhalb des Ufers und schaute über das ewige Meer hinaus. Van Veeteren blieb stehen. Öffnete die Wasserflasche und trank ein paar große Schlucke. Schaute auf die Uhr und beschloss, noch ein Stück weiterzugehen. Bis zur Klippe und ein wenig weiter. Wie oft war er Strände wie diesen entlanggelaufen, dachte er. Wenn man sie aneinander reihte, wie lang würde die Strecke wohl werden?
Und wie viele Stunden war er mit Gedanken an einen Mörder im Kopf herumgegangen? Ob man wohl Schaden daran nahm?
Und die nächste Frage tauchte ganz unangemeldet auf.
Wie viele Jahre habe ich noch zu leben?
Fünfundsechzig plus was?
In irgendeinem Buch – oder in irgendeiner Partitur – war natürlich irgendwo die Antwort aufgeschrieben. In hundert Jahren würde vielleicht jemand seine Biografie schreiben (die er selbst nie in den Griff bekommen hatte) und feststellen, dass der
Kommissar
nicht mehr als nur noch zwei Jahre zu leben hatte, als er in dem vergeblichen Versuch, den Fall G. zu lösen, in diesem Frühherbst nach Kaalbringen gereist war.
Oder zwei Monate?
Blödsinn, dachte er dann. Erst einmal dieser Tag und diese Stunde… und dann ein Schritt nach dem anderen. Er begann wieder weiterzugehen und beschloss, die Frage auf eigene Faust zu klären.
Ich gehe noch genau eine halbe Stunde lang weiter, beschloss er. Und so viele Menschen, wie mir auf dem Weg begegnen, so viele Jahre habe ich noch.
Fair deal.
Und als er nach dreißig Minuten wieder anhielt, jetzt auf der Höhe der Kirche von Wilgersee – man konnte den obersten Teil des spitzen Turms über dem Buchenwaldrand sehen
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