Sein letzter Fall - Fallet G
während die ganze Welt ihren wohlverdienten Schlaf genoss. Bereit, einen Einsatz anzuweisen, sobald ein betroffener Mitbürger seine Aufmerksamkeit begehrte, ja, hatte diese Rolle nicht etwas von dem wichtigsten, wenn auch nicht immer angeführten Motiv an sich, das ihn bewogen hatte, sich vor vier Jahren auf die Polizeischule zu bewerben? Über das Leben und den Besitz der Menschen zu wachen und der äußerste Garant für ihre Sicherheit zu sein.
Manchmal, wenn ihm derartige Gedanken kamen, überlegte Polizeianwärter Wagner, dass er sie eigentlich aufschreiben sollte. Vielleicht konnte man sie im Unterricht oder bei der Anwerbung benutzen. Warum eigentlich nicht?
Und sicher waren letztendlich genau diese Gefühle wohl schuld daran, dass er sich nicht zum Schlafen hinlegen mochte. Obwohl er doch zum Morgen hin unweigerlich einnicken würde, wenn vorher nichts passierte, das wusste er selbst – und eigentlich passierte so gut wie nie etwas. Nach halb drei war alle Mühe vergebens, sich wach zu halten, da halfen nicht einmal alle Kreuzworträtsel der Welt.
Er kaute auf seinem Stift herum, trank einen Schluck Kaffee und versuchte, sich zu konzentrieren.
Vier senkrecht, sieben Buchstaben, der zweite war ein a: Literarischer Bluthund in Paris.
Man sollte ab und zu mal ein Buch lesen, dachte Wagner und seufzte.
Schaute erneut auf die Uhr. Viertel vor zwei.
Da klingelte das Telefon.
Kommissar Sachs träumte, er wäre ein Delfin.
Ein junges, durchtrainiertes Delfinmännchen, das im salzigen, smaragdgrünen Meereswasser inmitten eines ganzen Schwarms von Weibchen herumschwamm. Sie spielten miteinander, glitten dicht nebeneinander, machten schöne Sprünge hoch in die Sonne oberhalb der glitzernden Wasseroberfläche und tauchten tief hinab zum Meeresboden. Rieben Brust, Rücken und Bauch in einem fröhlichen und wollüstigen Tanz aneinander.
Hier möchte ich für alle Zeiten bleiben, dachte er. Ich möchte immer ein geschmeidiges Delfinmännchen bleiben, umgeben von geilen Weibchen.
Das Läuten des Telefons schnitt ihm wie ein Sägeblatt durch Rückenmark und Gehirnrinde. Er bekam den Hörer zu fassen, ohne die Augen zu öffnen.
»Sachs.«
»Herr Kommissar?«
»Mhm…«
»Wagner hier.«
»Wer?«
»Polizeianwärter Wagner aus Linzhuisen. Ich habe Bereitschaftsdienst und habe soeben…«
»Wie spät ist es?«
»Sieben Minuten vor zwei. Ich habe gerade einen Anruf erhalten… um 01.45 Uhr, um korrekt zu sein… wegen einer toten Frau.«
Sachs öffnete die Augen. Schloss sie gleich wieder.
»Ja, und?«
»Es war ein Mann. Der anrief, meine ich. Und seine Ehefrau ist tot… Hennan, so hieß er… Jaan G. Hennan. Sie wohnen in Linden, deshalb habe ich gedacht…«
»Einen Moment. Ich gehe ans andere Telefon.«
Sachs kam auf die Beine und schlurfte in sein Arbeitszimmer. Nahm das Telefon auf dem Schreibtisch.
»Weiter.«
»Ja, ich werde natürlich den Arzt und so weiter alarmieren, aber ich dachte, es wäre das Beste, wenn ich den Kommissar als Ersten vorwarne.«
»In Ordnung. Aber was ist eigentlich passiert? Sei so gut und versuche, das Ganze etwas ruhiger anzugehen.«
Wagner räusperte sich und holte tief Luft.
»Sie heißt Barbara Hennan. Sie wohnt im Kammerweg, das ist wahrscheinlich ein wenig außerhalb vom Zentrum…«
»In Linden also?«
»Ja.
»Ich weiß, wo das liegt.«
»Ja, natürlich. Ja, dieser Mann, Jaan G. Hennan also, er ist offensichtlich ziemlich spät nach Hause gekommen… ungefähr gegen halb zwei… und da hat er seine Frau im Pool gefunden.«
»Im Swimmingpool?«
»Ja.«
»Ertrunken?«
»Nein, im Gegenteil.«
»Im Gegenteil? Was zum Teufel meinst du denn damit?«
»Sie lag… sie liegt auf dem Grund, wie er gesagt hat…«
»Ohne ertrunken zu sein?«
»Ja. Offensichtlich ist kein Wasser im Pool.«
Sachs starrte vor sich hin, und dabei fiel ihm das eingerahmte Foto seiner Kinder, das über dem Schreibtisch hing, ins Auge. Es waren Zwillinge, aber abgesehen von der gleichen Hautfarbe und den gleichen Eltern waren sie so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein konnten.
»Kein Wasser?«
»Nein, das behauptet er jedenfalls. Sie liegt unten auf dem Boden, er sagt, sie müsse hineingefallen und dabei umgekommen sein.«
Sachs dachte nach.
»Und was hast du ihm für Anweisungen gegeben?«
»Dass er dort bleiben und auf uns warten solle.«
»Gibt es Grund zur Annahme, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte?«
»Nun ja… nein, aber ich dachte trotzdem, es
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