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Sein letzter Fall - Fallet G

Sein letzter Fall - Fallet G

Titel: Sein letzter Fall - Fallet G Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Nesser
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angesehen hatte, als er in Erichs Alter gewesen war, konnte sich seine Gefühle von damals aber nicht mehr zurückrufen.
    Man bildet sich ja gerne ein, dass Kinder und Jugendliche das Leben einfacher finden als die Erwachsenen, dachte er. Das ist irgendwie eine Art Voraussetzung für das Elternsein, aber natürlich ist es eine Lebenslüge und eine falsche Vorstellung. Das auch.
    Und wo er schon dabei war, sich darüber Gedanken zu machen, fielen ihm – gänzlich unerwünschterweise – diese haltlosen und neunmalklugen Überlegungen hinsichtlich des dritten Faktors einer Gleichung ein, die ihn vor kurzem beschäftigt hatten – wie auch Heinemanns intuitive Äußerung über G.
    Dass er nicht der Typ sei, der sich einen Helfer holt.
    Dass es keinen dritten Faktor geben müsste.
    Ich muss das zu den Akten legen, dachte der Kommissar.
    Zumindest für eine Weile. Sonst werde ich noch verrückt.
    Er zündete sich eine Zigarette an, schlug den Mantelkragen hoch, um sich vor dem Regen zu schützen, und machte sich auf den Heimweg.
    Mami ist weggefahren.
    Weit weg, sagen sie. Tante Peggy und der einäugige Adam, der gekommen war, um sie und ihre Sachen zu holen.
    Vielleicht in ein anderes Land. Das wussten sie nicht so genau, aber sie konnte jedenfalls nicht mehr bei Peggy wohnen. Es war schon lange Zeit verstrichen. Tage und Nächte und Tage. Viel mehr als eine Woche, wie Mami gesagt hatte, das wusste sie. Vielleicht zwei Wochen, vielleicht noch mehr. Die ganze Zeit war Sommer gewesen. Sie hatte bei Tante Peggy viele, viele Nächte geschlafen, aber jetzt war Adam hier, um sie zu holen.
    Sie sollte in ein Heim, sagten sie.
    Ein Heim.
    Nein, kein Heim, in dem es Mami gab. Eine andere Art von Heim, sie wusste nicht, welche verschiedenen Arten von Heimen es so gab. Adam hatte eine große, grüne, weiche Tasche dabei, in die sie ihre Sachen und Kleidung packten. Tante Peggy hatte wenigstens alles gewaschen, es gab nichts mehr, was nach Pipi roch. Adam trug ein Unterhemd, so eines mit Löchern, durch die man sehen konnte, dass er auf Brust und Bauch ganz behaart war. Und ein bisschen auch auf dem Rücken, das war eklig.
    Mami würde bestimmt eines Tages zurückkommen, sagten sie. Sie würde kommen und sie aus diesem Heim holen, aber im Augenblick eben nicht. Im Augenblick war sie irgendwo anders, hatte viel zu tun und keine Zeit herzukommen und sich um sie zu kümmern.
    Sie würde es gut haben. Andere Kinder zum Spielen und ein eigenes Bett und einen Schrank für ihre Sachen. Ein kleiner See zum Baden auch, der lag gleich neben dem Heim, da gab es einen Steg, von dem aus man ins Wasser springen konnte, und es war ja immer noch Sommer.
    Sie würden ein paar Stunden mit Adams Auto fahren. Würden am Abend ankommen, dann würde sie dort Essen bekommen und ihre neuen Freunde kennen lernen.
    Tante Peggy hob sie hoch und nahm sie in die Arme – mit ihrem schlechten Geruch und ihren großen Brüsten. Adam schob seine schwarze Augenklappe zurecht und forderte sie auf, sich verdammt noch mal zu beeilen, damit sie endlich losfahren könnten.
    Und diese blöden Puppen auch in die Tasche zu packen.
    Sie zog den Reißverschluss auf und stopfte Trudi hinein, aber Bamba behielt sie im Arm. Bamba war keine Puppe, die man einfach so wegpacken konnte, aber das begriffen Adam und Peggy nicht. Adam nahm die Tasche, und dann gingen sie.
    Sie wusste nicht, ob sie froh oder traurig sein sollte. Es war ein komisches Gefühl, und es würde viele Tage dauern, bis Mami zurückkäme, das war ihr schon klar. Wochen und Wochen. Aber sie müsste nie wieder bei dieser blöden Peggy schlafen.
    Nie wieder.

2002
April – Mai

27
    Er träumte, er säße im Antiquariat und schliefe.
    Natürlich in dem Ohrensessel im Hinterzimmer, mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien, einem Kaffeebecher in der Halterung auf der Armlehne, und der Regen trommelte auf das Fensterblech zur Gasse hin.
    April wahrscheinlich, der schlimmste aller Monate. Später Nachmittag, wenn es schlecht um Kunden bestellt war, zwischen fünf und sechs. Da vermochte er sich selten die ganze Zeit wach zu halten. So war es nun einmal, und es gab ja auch nichts, was dagegen sprach, sich eine Viertel- oder eine halbe Stunde zu gönnen, absolut keinen Grund in diesem Abschnitt seines Lebens…
    Die Türglocke klingelte, und er wachte auf.
    Er saß im Hinterzimmer des Antiquariats, Nootebooms Spanienbuch aufgeschlagen auf dem Schoß. Ein leer getrunkener Kaffeebecher stand in der Halterung auf der

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