Sein letzter Fall - Fallet G
Armlehne, und der Regen trommelte auf das Fensterble…
Was zum Teufel?, dachte er. Träume ich oder wache ich?
Bin ich gerade aufgewacht oder bin ich gerade eingeschlafen?
Er schüttelte den Kopf, und es überlief ihn ein Schauer. Was hatte das zu bedeuten, wenn Wirklichkeit und Traumleben zusammenfielen? War das das äußerste Zeichen von Armseligkeit oder war es etwas anderes? Etwas absolut anderes?
Er hörte, wie jemand im Verkaufsraum die Tür hinter sich schloss. Das Rascheln einer Regenjacke, die ausgezogen wurde. Ein leises Räuspern. Er entschied, dass er wach war.
»Hallo? Ist hier jemand?«
Er kämpfte sich aus seinem Sessel hoch und gab zu, dass er existierte.
Die Frau war blond und sah aus, als wäre sie in den Dreißigern. Es genügte ein schneller Blick, um zu begreifen, dass sie nicht der Bücher wegen gekommen war, sondern etwas anderes auf dem Herzen hatte. Wobei unklar war, was. Unklar, wie er es deuten sollte. Er wartete, während sie sich ihre Brille an einem blaugrauen Pulloverärmel abtrocknete.
»Van Veeteren? Ich suche jemanden, der Van Veeteren heißt.«
»Worum geht es?«
»Sind Sie das…?« Sie lächelte unsicher.
»Das ist möglich. Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie möchten, dann werden wir sehen. Wollen Sie sich setzen?«
Später – drei, vier oder fünf Monate später – redete er sich gern ein, dass er eine Art Vorahnung gehabt hätte. Dass er irgendwie gewusst hätte, was kommen würde, als sie noch dastand und nach einem Platz für ihre nasse Regenjacke suchte. Worauf er sich – zum letzten Mal? – einlassen würde.
Doch, es musste das letzte Mal sein.
Aber das war hinterher, im Rückblick – wir begreifen das Leben rückwärts, müssen es aber vorwärts leben, er kannte seinen Kierkegaard –, und als er jetzt ihre rote Jacke entgegennahm und sie über den Stuhl hinter dem massiven Hoegermaasschreibtisch mit den Katalogen und neuen, noch nicht sortierten Bücherstapeln warf, mit Quittungsblock und Kassenlade, Aschenbecher und der alten, verwaschenen Büste von Rilke… ja, da war wohl, ehrlich gesagt, nicht die Rede davon, den Vorhang zu lüften und das Rätsel der Zukunft zu lösen. Höchstens von einem kleinen Streifen an Neugier. Einer Art freudiger Erwartung, mehr nicht.
Aber gewisse Dinge sieht man eben nur im Nachhinein. Was zweifellos das Beste ist. Er führte sie in die enge Kochnische, sie setzte sich auf einen der Korbstühle, und er ließ sich ihr gegenüber nieder.
»Ein Kommissar Münster hat mich geschickt.«
»Kommissar Münster?«
»Ja.«
»Und…?«
»Von der Kriminalpolizei. Ich habe gestern mit ihm telefoniert. Er hat vorgeschlagen, dass ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen soll… wenn Sie Hauptkommissar Van Veeteren sind, wie gesagt?«
Er wedelte abwehrend mit dem Zeigefinger.
»Sowohl als auch.«
»Sowohl als auch?«
»Ja und nein, aber in erster Linie nein. Einmal am Anfang der Zeit war ich tatsächlich Kommissar. Inzwischen bin ich nur noch Herr Van Veeteren, der Retter in der Not und Buchhändler antiquarischer Bücher. Dass er das nicht lernen kann, dieser Kommissar Münster. Aber ich denke, es ist langsam an der Zeit, dass Sie damit herausrücken, was Sie auf dem Herzen haben, Fräulein… oder muss ich Frau sagen?«
»Ja, Frau.«
»Natürlich. Warum sollte eine so schöne Frau wie Sie ledig herumlaufen?«
Sie lächelte kurz, und er sah, dass seine Worte besser gewählt waren, als er gedacht hatte. Sie war keine Aufsehen erregende Schönheit, aber ihre Gesichtszüge waren rein, und in ihren Augen befand sich ein warmes, aufrichtiges Glänzen.
»Mein Name ist Belle Vargas.«
Ihm kam in den Sinn, dass er das aufschreiben sollte, hatte aber weder Stift noch Papier zur Hand.
»Ich komme zu Ihnen, weil ich mir Sorgen um meinen Vater mache. Er ist… ich weiß nicht genau, aber ich denke schon, dass man sagen muss, dass er verschwunden ist.«
»Verschwunden?«
»Ja. Deshalb bin ich gestern zur Polizei gegangen… um mitzuteilen, dass er vermisst wird. Und als ich wieder zu Hause war, da hat mich dieser Kommissar angerufen…«
»Münster?«
»Ja, Kommissar Münster. Er machte mir den Vorschlag, Sie um ein Gespräch zu bitten, er behauptete, die Sache würde Sie interessieren.«
Van Veeteren räusperte sich.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht so richtig, was das Ganze…«
»Entschuldigen Sie. Bis zu meiner Heirat hieß ich Verlangen. Der Name meines Vaters ist Maarten Verlangen.«
Es dauerte zwei Sekunden, vielleicht
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