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Sein letzter Trumpf

Titel: Sein letzter Trumpf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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langen parallelen Straßen bildeten ein Streifenmuster. Am unteren Ende befand sich ein Slum, wo früher ein Hafen gewesen war, im neunzehnten Jahrhundert, als die Walfänger mit ihrem Fang noch so weit den Hudson hinauffuhren, zu den Fabriken am Fluss, in denen Tran, Speck und andere verwertbare Stoffe aus den Kadavern herausgeschnitten und gekocht wurden, um anschließend über den Eriekanal, die Großen Seen und die Flüsse des Mittleren Westens ins übrige Amerika verschifft zu werden.
    Die Walfänger, die Walindustrie und die kommerzielle Nutzung der Wasserwege gehörten längst der Vergangenheit an, aber die Stadt war noch da. Sie war verarmt und arm geblieben. Einmal, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, war sie eine Zeitlang das Freudenhaus des Nordostens und weniger arm gewesen, bis eine spielverderberische Regierung durchgegriffen und Hudson wieder zu einer tugendhaften und armen Stadt gemacht hatte. Jetzt war sie eine Drehscheibe des von New York City aus per Straße oder Eisenbahn abgewickelten Drogenhandels und für die gesetzestreue Welt ein Zentrum des Antiquitätenhandels.
    Das Lido war so weit vom Wasser entfernt, wie es an einer der vom Fluss heraufkommenden Straßen nur möglich war. Von seinem sonnigen Platz aus sah Parker den Fluss überhaupt nicht, sondern nur die niedrigen alten Gebäude, die sich in Zweierreihen über das Plateau und dann bergab erstreckten. Da es schon so lange arm gewesen war, war Hudson, ohne es darauf anzulegen, putzig geworden.
    Etwa zwei Minuten später kam einer der schäbigen Typenaus dem Lido, schaute sich um, sah Parker und ging auf ihn zu. Er war dem Aussehen nach um die Fünfzig, aber vorzeitig ergraut, als sei vor langer Zeit in der Walfabrik alles Fleisch und aller Saft aus ihm herausgepresst worden. Sein schütteres braunes Haar war spröde, seine blinzelnden Augen hellblau, seine Wangen stoppelig. Er trug unscheinbare grau-schwarze Arbeitskleidung und ging mit einem kraftsparenden Schlurfen, das Parker kannte; dieser Knabe hatte wahrscheinlich mehr als einmal im Knast gesessen.
    Und das war plausibel. Um den Mann zu finden, hatte Parker weitere Anrufe getätigt und gesagt, er brauche jemanden, der den Fluss kenne und den Mund halten könne. Die meisten Leute, die er anrief, waren Exhäftlinge, und die meisten Leute, die sie kannten, waren Exhäftlinge, warum also sollte dieser Mann keiner sein?
    Er blieb vor Parker stehen, zögernd, wachsam, abwartend. »Lynch?« fragte er.
    »Hanzen?«
    »Der bin ich«, sagte Hanzen. »Sie kennen einen Freund von mir.«
    »Pete Rudd.«
    »Aha, Pete also«, sagte Hanzen. »Was gibt’s Neues von Pete?«
    »Er ist raus.«
    Hanzen grinste und entblößte dabei sehr weiße Zähne. »Wie wir alle«, sagte er. »Ist das Ihr Auto?«
    »Kommen Sie.«
    Sie stiegen in den Subaru, Parker fuhr los, und Hanzen sagte: »Rechts abbiegen.«
    »Wir fahren nicht zum Fluss runter?«
    »Nicht in der Stadt. Da sind bloß lauter Schwarze. Ein Stück nach Norden.«
    Sie fuhren zwanzig Minuten. Hanzen wies den Weg, aus der Stadt hinaus auf eine Hauptstraße Richtung Norden, dann nach links auf eine Landstraße. Abgesehen von Hanzens kurzen Anweisungen herrschte Stille im Auto. Sie kannten einander nicht, und keiner von beiden hatte viel für Smalltalk übrig.
    Von der Landstraße bog Parker auf Hanzens Direktive nach links auf einen Fahrweg ab, zwischen einer morschen Scheune und einem frisch gepflügten Feld, aus dem kleine grüne Blättchen sprossen. »Später Mais«, sagte Hanzen mit einer Kopfbewegung zu dem Feld hin – das einzige Mal, dass er den Fremdenführer machte.
    Der Fahrweg führte abwärts zum Ende des Feldes und dann zwischen struppigen Bäumen und Unterholz hindurch, wo das Gelände zum Pflügen zu steil war. Dann lief er flach aus, und sie holperten über Eisenbahnschienen. »Amtrak?« fragte Parker.
    »Die machen immer Krach, wenn sie kommen«, sagte Hanzen.
    Gleich hinter dem Bahndamm verbreiterte sich die Straße zu einer ovalen, ungeteerten Fläche, auf der irgendwann viele Autos geparkt hatten und mehrere Feuer angezündet worden waren. Niedrige Götter- und hohe Ahornbäume drängten von den Seiten heran, und der Fluss war direkt vor ihnen, am jenseitigen Ende des Ovals. Der schlammige, steinige Grund fiel steil ab. Nach links zu, flussabwärts, lagen drei verfaulte Boote halb im Wasser und halb auf dem Ufer. Eines davon war teilweise verbrannt. Etwa drei Meter vom Ufer entfernt zerrte ein graues Boot mit Außenbordmotor in

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