Sein mit Leib und Seele - Band 09
werden, als wir es jetzt sind, auch wenn ich davon überzeugt bin.“
Man sollte nichts beschwören, Papa.
7. Nur noch ein bisschen!
Vier Stunden Flug. Genug Zeit, um mich zu langweilen. Ich habe eines der Hefte meines Vaters mitgenommen, aber ich wage nicht, es zu öffnen. Ich habe zu viel Angst. Bei jedem Wort seiner Liebe wird mir schlecht. Ich weiß zu gut, dass am 27. Oktober 1989 alles vorbei sein wird. Wegen mir. Auch das Bild meiner Mutter ist beschädigt. Es ist mir egal, dass sie keinen Abschluss hatte, nein, mich bedrückt, dass sie mich nicht wollte. In seinem Heft spricht mein Vater immer öfter von Tiefpunkten, von Weinkrämpfen. Ich spüre, wie er sich selbst belügt, wenn er sagt, dass nach der Geburt alles besser würde. Hat sie gespürt, dass es schlecht ausgehen würde? Dass diese Schwangerschaft ihren Tod bedeuten würde? Ich weiß, das ist unmöglich, aber so ist nun mal mein Gefühl …
Stattdessen lese ich Manons Buch,
Rebecca
. Ich bin von der ersten Seite an begeistert. Ich kann natürlich nicht verhindern, mich mit der Protagonistin zu identifizieren. Arm und unbeholfen, verfällt sie dem Charme eines reichen, schönen Witwers … Ich erkenne Manons Humor wieder. Oder hat Charles etwa dieses Buch ausgewählt? Je mehr ich lese, desto mehr schockiert und fasziniert mich die Ähnlichkeit mit meiner eigenen Geschichte. Ich erkenne zwangsläufig Alice’ Züge in Rebecca, der toten Frau von Max. Rebecca, die perfekte Ehefrau, deren Tod die Protagonisten plagt. Als ich an die Stelle komme, an der Max seiner neuen Frau gesteht, dass er Rebecca getötet hat, schlage ich heftig das Buch zu, starr vor Angst. Und wenn es so wäre? Wenn Charles wirklich seine Frau getötet hat? Meine Erinnerungen an diesen Abend sind schließlich vage genug, ich hatte Angst, war misshandelt worden, unter Drogen gesetzt, wer weiß? Was, wenn Charles das alles organisiert hat?
Rebecca
ist nur ein Buch, Emma, komm zu dir!
Ich zögere einige Minuten, dann öffne ich dieses verfluchte Buch wieder, fest entschlossen, nicht mehr Wahrheit und Geschichte zu vermischen. Das Essen, das mir die Stewardess bringt, rühre ich kaum an, so sehr bin ich in meine Lektüre vertieft. Und dann die Enthüllung: Rebecca wusste, dass sie verurteilt war, sie ertrug den Gedanken zu leiden nicht, schwächer zu werden, also hat sie ihren eigenen Tod geplant. Sie wollte, dass Max sie tötet, sie hat ihn dazu gebracht … Um ihm sein Leben nach ihrem Tod zu verderben. Rebecca, Alice … Nun bin ich fast sicher, dass Charles mit ihrem Tod nichts zu tun hat. Sie hat es aber so eingerichtet, dass man an seine Schuld glauben würde. Sie hat also gewusst, dass sie sterben würde … War sie denn krank? Warum wollte sie Charles’ Leben zerstören?
Als die Stewardess die Flugzeugtür in der prallen Sonne öffnet, bin ich fast erstaunt, mich nicht mitten in der Nacht in Manderley wiederzufinden, von Wind und Gischt geohrfeigt. Ich hätte meine Sonnenbrille mitnehmen sollen, das schöne Wetter ist fast schon unanständig. Eine Limousine wartet auf mich, ich werfe mich auf die dunkle, tiefe Rückbank. Die Scheiben sind getönt, ich sehe die Stadt wie einen Film vorüberziehen. Das Meer, die Palmen … Welche Tragödie könnte in dieser Kulisse schon entstehen? Ich stelle mir nicht für eine Sekunde den schönen Maximilian de Winter in Bermudashorts vor, oder Charles …
Das Hotel liegt ein wenig abseits vom Touristenzentrum an einem Privatstrand. Es ist ein großes Kolonialgebäude, vor dessen Tür gerade zwei Pagen heldenhaft zerschmelzen. Unser Wagen hält vor der Tür. Ich steige aus und greife meine Tasche, während ein dritter Page mit einem vergoldeten Kofferkuli kommt – zweifelsohne, um mein tonnenschweres Gepäck zu tragen … Ganz bestimmt haben sie sich die neue Direktorin von Delmonte Inc. so nicht vorgestellt!
In der riesigen Halle überbieten sich Mannequins und grüne Pflanzen an Größe und versuchen vergeblich, die Decke zu erreichen. Das Ambiente ist gedämpft, der elegante Jazz eines unsichtbaren Klaviers taucht das Ganze in eine Atmosphäre längst vergangener Zeiten.
„Mademoiselle?“
„Emma Maugham von Delmonte Inc.“
„Willkommen im Grand Hotel, Madame. Hier ist Ihr Schlüssel, Pablo wird Sie zu Ihrem Zimmer bringen. Ah, warten Sie, Ihre Verabredung ist bereits eingetroffen. Er erwartet Sie im Kleinen Salon. Vielleicht möchten Sie sich vorher ein wenig erfrischen?“
Mich erfrischen? Für eine Dusche habe ich noch
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