Sein Schmerz - Extrem (German Edition)
verstand. Also versuchte er es. Er dachte über sie nach und analysierte sie, während sie in Wellen über ihn hinwegschwammen. Während er seine Gefühle sezierte, spürte er, wie der Schmerz an Kraft verlor. Der kleine Mann hatte recht gehabt. Er hatte den Schmerz zwar noch nicht völlig überwunden, aber er hatte gelernt, dass es möglich war. Er konnte ohne die stetige Angst vor Schmerzen leben. Und er hatte außerdem gelernt, was für ein furchtbarer Sohn er gewesen und wie sehr er seine Mutter verletzt hatte. Nun musste er seine Krankheit nicht nur für sich selbst überwinden, sondern auch für seine Mutter, damit er sie eines Tages in den Arm nehmen und die Zuneigung erwidern konnte, die sie sich so verzweifelt von ihm wünschte.
»Das ist kein Schmerz«, sagte er sich erneut, aber diesmal sprach er die Worte laut aus und spürte, wie ein Schmerz sein Trommelfell durchbohrte. Er biss die Zähne zusammen und sagte es noch einmal. Der Schmerz verdoppelte sich. Er sagte es erneut, diesmal lauter, und dann immer wieder und wieder. Jedes Mal bohrte sich ein scharfer Speer der Qual durch seinen Schädel. Schweiß und Tränen rannen über sein Gesicht, während er zitterte und sein Körper sich anspannte, um den Ansturm abzuwehren. Trotzdem wiederholte er die Worte erneut, diesmal noch lauter. Bald so laut, dass er sich beinahe die Lunge aus dem Leib brüllte.
Edward war nach Hause gekommen, kurz bevor das Geschrei anfing. Er war durch die Haustür getreten und hatte verärgert die Augen verdreht, als er den kleinen Mann in der orangefarbenen Kutte erblickt hatte.
»Sie müssen der Yogi sein.«
»Arjunda. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ich nehme an, Sie sind Edward Thompson?«
»Entweder das oder ich bin ein sehr dreister Einbrecher«, scherzte Edward sarkastisch.
»Oder ein sehr dreister Liebhaber, der sich hinter Edwards Rücken hier hereinschleicht«, konterte der Yogi, und Edward kniff misstrauisch die Augen zusammen. Sie starrten einander für einen langen Moment an, bevor Edward wieder etwas sagte.
»Okay, also, warum sind Sie hier? Sie behaupten, Sie wollen kein Geld, aber ich kann es mir auch nicht leisten, Sie für den Rest Ihres Lebens durchzufüttern. Wenn Sie also glauben, dass Sie unseren Sohn heilen können, dann sollten Sie besser gleich damit anfangen.«
»Das habe ich bereits.«
»Er war den ganzen Nachmittag bei Jason. Ich hab Jason sprechen gehört und … und er hat gelacht.«
»Wer hat gelacht? Er?« Edward deutete auf den Yogi.
»Nein, Jason.«
»Jason? Wie das denn?«
»Ich weiß es nicht. Er lässt niemanden zu ihm rein. Da war dieses Geschrei und ich hab gehört, wie er mit Jason gesprochen hat, und dann hat Jason angefangen zu lachen.«
»Lachen ist eine Methode, wie Menschen mit Schmerzen umgehen können.«
»Was meinst du damit, er lässt uns unseren Sohn nicht sehen?«
»Ich glaube nicht, dass das im Moment sehr klug wäre. Jason befindet sich in einer sehr heiklen Phase. Er braucht meine Führung, ohne Ablenkungen. Er ist ein so ungewöhnlicher Fall. Ich hatte noch nie zuvor mit einem Kind zu tun, das nie etwas anderes als Schmerzen gekannt hat. Ich muss all meine Energie auf ihn konzentrieren, um ihm da durchzuhelfen.«
»Durch was?«
»Durch seinen Schmerz. Er wurde sein ganzes Leben davon isoliert, er wurde von allem isoliert. Darum haben seine Bewältigungsmechanismen geschlummert. Er muss diese Mechanismen nun wieder erwecken und neue erlernen, wenn er überleben will. Er muss diese Krücken abwerfen und lernen, mit dem Leben zurechtzukommen. Heute Nacht wird er zum letzten Mal in diesem Sack schlafen. Und morgen setzen wir die Pillen ab.«
»Augenblick mal, ganz langsam! Sie stürmen ein bisschen zu schnell voran. Sie können nicht einfach seine Medikamente absetzen. Die Entzugserscheinungen werden ihn umbringen.«
»Er wird es überleben. Und wenn nicht, dann ist er wenigstens aus seinem Elend erlöst.«
Edward und Melanie sahen den Yogi schockiert an.
»Verschwinden Sie verflucht noch mal aus meinem …«
In diesem Moment hörten sie die Schreie.
Jasons Kopf fühlte sich an, als sei er zerquetscht worden. Aber er wusste, dass dem nicht so war. Er wusste, dass er keine Schmerzen empfinden sollte.
»Aber warum sind sie dann da?«
Die Ärzte hatten erklärt, seine Nerven seien falsch verkabelt. Aber was bedeutete das? Es bedeutete, dass das, was er fühlte, nicht real war. Es warnte ihn nicht vor einer Gefahr und es wies ihn auch nicht auf eine
Weitere Kostenlose Bücher