Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
der Präsident von Comunione e
Liberazione, »mit der Neubesetzung die Gepflogenheiten der vergangenen dreißig
Jahre entschieden zu beenden, insbesondere angesichts der Bedeutung und des
Einflusses, den die Erzdiözese Mailand in der gesamten Lombardei, in Italien
und der ganzen Welt ausübt«. Dies ist ein schwerer Vorwurf gegen die Mailänder
Kurie.
Der erste
entscheidende Punkt ist die tiefe Glaubenskrise des Volkes Gottes, insbesondere
die Krise der ambrosianischen Tradition. […] In den vergangenen dreißig Jahren
haben wir einen Bruch mit dieser Tradition erlebt und die für die Moderne
charakteristische Trennung zwischen Wissen und Glauben de jure hingenommen und
de facto gefördert, und zwar auf Kosten der organischen Einheit der christlichen
Lebenspraxis, die auf Intimismus und Moralismus reduziert wird.
Die schwere
Krise der Berufungen, der man fast ausschließlich organisatorisch
entgegentritt, dauert an. Die Entstehung von Seelsorgezentren hat in weiten
Teilen des Klerus für großes Befremden und Bekümmerung gesorgt und zu einer
tiefen Verunsicherung der Gläubigen geführt, die sich angesichts der Vielzahl
der priesterlichen Bezugspersonen nur noch schwer zurechtfinden. [1]
Doch es geht nicht nur um die Lehre der Kirche und um den
Priesternachwuchs. Carrón übt vehement Kritik an der von Kardinal Martini und
dem ambrosianischen Ritus geprägten Tradition. Für den Leiter von Comunione e
Liberazione hat sich die Kirche der Diözese Mailand in den letzten 30 Jahren
als »Lehramt in Alternative« zum Heiligen Vater und zum Vatikan präsentiert.
Hier sei ein Einlenken erforderlich. Carrón geht noch einen Schritt weiter und
kritisiert auch diejenigen in der Mailänder Kurie, die bestimmte katholische
Bewegungen der »Geschäftemacherei« bezichtigen und dabei unausgesprochen die
Gemeinschaft Comunione e Liberazione im Blick haben. Wir sind, wohlgemerkt, im
März 2011.
Carrón exponiert sich also Monate vor dem Skandal um die San-Raffaele-Klinik
und vor Beginn der Ermittlungen gegen Führungsfiguren der Region Lombardei,
unter ihnen zahlreiche Mitglieder von Comunione e Liberazione, denen moralische
oder strafrechtliche Verantwortung zugeschrieben wird.
Die
theologische Ausbildung der künftigen Geistlichen und der Laien weicht – von
löblichen Ausnahmen abgesehen – in vielen Punkten von der Tradition und vom
Lehramt ab, insbesondere im Bereich der Bibelwissenschaft und der
systematischen Theologie. Oft wird ein »Lehramt in Alternative« zu Rom und zum
Heiligen Vater vertreten, das sich mittlerweile als fester Bestandteil der
zeitgenössischen »Ambrosianität« zu etablieren droht.
Geistliche
Bewegungen werden zwar toleriert, aber zunehmend als ein Problem und nicht als
Lösung angesehen. Vorherrschend ist immer noch die soziologische Sichtweise der
70er-Jahre, als bildeten diese Gemeinschaften eine »Parallelkirche«, obwohl
sie – um nur ein Beispiel zu nennen – Hunderte und Aberhunderte Katecheten
stellen, die in vielen Pfarreien die unzureichenden Kapazitäten der
Katholischen Aktion ergänzen. Vielfach werden die zahlreichen Aktivitäten von
Laien im Bildungsbereich sowie im sozialen und karitativen Sektor mit Argwohn
betrachtet und als »Geschäftemacherei« abgestempelt, auch wenn es an der
anfänglichen Wertschätzung neuer Bemühungen zur praktischen Umsetzung der
Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität in der jahrhundertealten Tradition
des praktischen Wirkens des ambrosianischen Katholizismus keineswegs fehlt.
Der vielleicht wichtigste Punkt jedoch ist die Politik.
Carrón beklagt sich, und er nimmt eine Achse ins Visier, die seiner Ansicht
nach von der Kirche Mailands und dem Mitte-links-Lager gebildet wird. Dabei
konstatiert er einen »Neokollateralismus«, wie er es nennt. Tatsächlich
beschuldigt der CL-Vorsitzende Erzbischof Tettamanzi und
die Mailänder Kurie, ausschließlich zu denjenigen politischen Parteien
Beziehungen zu pflegen, die auf nationaler Ebene mit Bersani und dem
katholischen Flügel des Partito Democratico (PD)
in Verbindung stehen. Mehr noch: Die Kurie, so fährt er fort, bekämpfe auch
Katholiken »mit sehr verantwortungsvollen Positionen in der Regionalregierung«.
Auch hier spricht er zwar nicht explizit von Formigoni, aber die Anspielung auf
ihn ist offenkundig.
Was die
Präsenz der Kirche in der Zivilgesellschaft betrifft, so ist eine gewisse
Einseitigkeit zugunsten des Einsatzes für soziale Gerechtigkeit auf
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