Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seine Lordschaft lassen bitten

Titel: Seine Lordschaft lassen bitten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
übertriebene Rücksicht auf das Dekorum zu deuten.«
    »Ja, ja«, warf der Dicke ein, »Sie haben aber die Zeitung nicht sorgfältig gelesen. Die beiden Männer können nicht gemeinsam dorthin gekommen sein. Und warum? Man hat nur die Fußspuren eines Mannes gefunden, und die stammten von dem Ermordeten.«
    Er sah sich triumphierend um.
    »Nur die Fußspuren eines Mannes, wie?« sagte der Reisende erster Klasse rasch. »Das ist ja interessant. Wissen Sie das bestimmt?«
    »So steht's in der Zeitung. Die Fußspuren eines Mannes, heißt's da, die von nackten Füßen herrühren und sich durch sorgfältigen Vergleich als die des Ermordeten erwiesen haben, führten vom Standort des Autos bis zur Stelle, wo der Leichnam gefunden wurde. Was sagen Sie dazu?«
    »Na«, entgegnete der Angeredete, »das verrät einem eine ganze Menge. Man sieht den Platz sozusagen aus der Vogelschau. Auch erfahrt man die Zeit des Mordes. Außerdem wirft es ziemlich viel Licht auf den Charakter und die Verhältnisse des Mörders – oder der Mörder.«
    »Wie können Sie das alles aus den paar Angaben herauslesen, Sir?« wollte der ältere Mann wissen.
    » Zunächst einmal gibt es dort – ich bin zwar selbst noch nie in der Gegend gewesen – offenbar einen Sandstrand.«
    »Richtig«, bestätigte der Dicke.
    »Ferner ragt in der Nähe der Ausläufer eines Felsens weit in die See hinaus, von dem aus man ins Wasser springen und baden kann, ehe die Flut an die Küste kommt.«
    »Ich weiß nicht, wie Sie das erraten können, Sir, aber es stimmt. Ungefähr hundert Meter weiter weg gibt es solche Felsen und tiefes Wasser, genau wie Sie es beschreiben. Manches Mal bin ich dort hinuntergesprungen.«
    »Und die Felsen setzen sich nach dem Binnenland zu fort, wo sie mit kurzem Gras bedeckt sind.«
    »Stimmt.«
    »Der Mord fand, wie ich annehme, kurz vor der Flut statt, und die Leiche lag so ziemlich an der Hochwassergrenze.«
    »Warum das?«
    »Na, Sie sagten doch, daß Fußspuren bis zur Leiche führten. Das bedeutet, daß das Wasser nicht bis über die Leiche hinaus vorgedrungen ist. Aber andere Spuren waren nicht vorhanden. Daher müssen die Fußspuren des Mörders von der Flut ausgelöscht worden sein. Das Ganze läßt sich nur so erklären , daß die beiden Männer innerhalb der Hochwassergrenze zusammenstanden. Der Mörder kam aus der See. Er griff den anderen an, drängte ihn vielleicht ein wenig in seinen eigenen Spuren zurück und tötete ihn. Dann kam das Wasser heran und wusch eventuelle Spuren des Mörders hinweg. Man kann sich richtig vorstellen, wie er da kauerte und sich fragte, ob die See wohl weit genug vordringen würde.«
    »Hu!« rief Kitty, »ich bekomme eine regelrechte Gänsehaut.«
    »Nun zur Entstellung des Gesichts«, fuhr der Reisende erster Klasse fort. »Der Mörder war nach meiner Ansicht schon im Wasser, als das Opfer ankam. Sehen Sie, was ich meine?«
    »Ich verstehe schon«, sagte der Dicke. »Sie nehmen an, er ist von dem Felsen ins Meer gesprungen und aus dem Wasser an den Strand gekommen. Daher keine Fußspuren.«
    »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Und da das Wasser bei diesen Felsen, wie Sie sagen, tief ist, war er vermutlich auch im Badeanzug.«
    »Höchstwahrscheinlich.«
    »Ganz recht. Nun fragt man sich: womit ist das Gesicht verstümmelt worden? Man nimmt gewöhnlich kein Messer mit, wenn man morgens in die Fluten steigt.«
    »Das ist allerdings ein Rätsel«, bemerkte der Dicke.
    »Nicht unbedingt. Sagen wir einmal, der Mörder hatte entweder ein Messer bei sich oder nicht. Wenn er eins –«
    »Wenn er eins bei sich hatte«, ergänzte der sittsame Mann eifrig, »muß er vorsätzlich auf den Ermordeten gewartet haben. Und meiner Ansicht nach bestätigt das wieder meine Theorie von einem großangelegten, listigen Komplott.«
    »Ja. Aber wenn er dort mit dem Messer wartet, warum hat er den Mann nicht einfach erstochen? Warum hat er ihn erwürgt, wenn er eine tadellose Waffe zur Hand hatte? Nein – ich glaube, er kam unbewaffnet, und als er seinen Feind dort sah, ging er auf typisch britische Art mit Fäusten auf ihn los.«
    »Aber die Verstümmelung?«
    »Ich denke, als er den Mann tot vor sich im Sande liegen sah, packte ihn eine furchtbare Wut, und er wollte noch mehr Schaden anrichten. Er griff nach dem ersten besten Gegenstand, der in der Nahe lag – vielleicht ein Stück altes Eisen oder eine scharfe Muschel oder etwas Glas –, und fiel in einer maßlosen Anwandlung von Eifersucht oder Haß

Weitere Kostenlose Bücher