Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seine Lordschaft lassen bitten

Titel: Seine Lordschaft lassen bitten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
worden ist?«
    Die Überfüllung der Züge nach den Feiertagen hatte zur Folge gehabt, daß viele Dritter-Klasse-Passagiere die erste überfluteten, und der dicke Mann war krampfhaft bemüht, so zu tun, als sei er in seiner neuen Umgebung zu Hause. Der jüngere Herr, den er anredete, hatte offenbar den vollen Preis für eine Abgeschiedenheit bezahlt, die er nicht genießen sollte. Er nahm die Sache jedoch von der gutmütigen Seite und erwiderte in höflichem Ton:
    »Leider habe ich nur die Schlagzeilen gelesen. Er wurde ermordet, nicht wahr?«
    »Das kann man wohl behaupten«, sagte der dicke Mann mit sichtlichem Wohlbehagen. »Ganz zerstückelt war er – einfach schrecklich.«
    »Mehr, als ob ein wildes Tier es getan hätte«, mischte sich der hagere, ältere Mann von gegenüber ein. »Überhaupt kein Gesicht hatte er mehr, wie's in meiner Zeitung steht. Es sollte mich nicht überraschen, wenn es einer von diesen Verrückten war, die herumstrolchen und Kinder abmurksen.«
    »Ich wollte, du sprächst nicht davon«, sagte seine Frau mit einem Schauder. »Ich liege nachts wach, weil ich immer daran denken muß, was Lizzies Kindern zustoßen mag. Mir wird dann ganz heiß im Kopf und der Magen rutscht mir bis in die Kniekehlen, so daß ich aufstehen und ein paar Kekse essen muß. Sie sollten so etwas Gräßliches nicht in den Zeitungen abdrucken.«
    »Es ist besser, wenn sie es tun, Madame«, meinte der Dicke, »dann sind wir sozusagen gewarnt und können Vorsichtsmaßregeln treffen. Na, so wie ich das verstehe, hat dieser unglückselige Herr für sich allein an einer einsamen Stelle gebadet. Nun, ganz abgesehen von Krämpfen, die jeder von uns kriegen kann, ist das sehr töricht.«
    »Das ist es ja gerade, was ich meinem Mann immer predige«, fiel die junge Frau ein. Der junge Ehemann runzelte die Stirn und rückte unruhig hin und her. »Mein Lieber, es ist bestimmt gefährlich und noch dazu, wo du kein starkes Herz hast.« Ihre Hand tastete unter der Zeitung nach seiner. Er rückte verlegen ab und sagte: »Schon gut, Kitty.«
    »Meiner Meinung nach liegt die Sache so«, fuhr der Dicke fort. »Der unselige Krieg hat Hunderte von Männern aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie sahen, wie ihre Freunde in die Luft flogen oder zerschossen wurden. Sie sind fünf Jahre durch Schrecken und Blutvergießen gegangen, und das hat ihnen Appetit auf Greuel gemacht. Sie mögen es zunächst vergessen haben und allem äußeren Anschein nach friedlich dahinleben wie jeder andere auch, aber das ist alles gekünstelt, wenn Sie mich recht verstehen. Dann passiert eines Tages etwas, das sie aus der Fassung bringt – vielleicht ein Zank mit der Frau, oder das Wetter ist besonders heiß wie heute –, und dann knallt's in ihrem Gehirn, und sie werden zu rasenden Ungeheuern. Es steht alles in den Büchern. Ich lese ziemlich viel, so am Abend, da ich ein Junggeselle ohne Anhang bin.«
    »Das trifft alles zu«, äußerte sich ein kleiner sittsamer Mann, der von seiner Zeitschrift aufblickte, »es ist tatsächlich wahr – leider zu wahr. Aber glauben Sie, daß es sich auf diesen Fall anwenden läßt? Ich habe mich mit der Literatur über das Verbrechen eingehend befaßt – ich darf wohl sagen, es ist mein Steckenpferd –, und meiner Ansicht nach steckt hier mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht. Wenn Sie diesen Mord mit einem der höchst mysteriösen Verbrechen vergleichen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben – Verbrechen, die, wohlgemerkt, niemals aufgeklärt worden sind und meiner Meinung nach niemals aufgeklärt werden –, was finden Sie dann?« Er brach ab und blickte sich im Kreise um. »Sie finden viele Züge, die auf diesen Fall zutreffen. Besonders werden Sie entdecken, daß das Gesicht, und wohlgemerkt nur das Gesicht, entstellt worden ist, als ob man ein Erkennen verhindern wollte. Als ob man die Persönlichkeit des Opfers auslöschen wollte. Und Sie werden finden, daß trotz der gründlichsten Nachforschungen der Verbrecher niemals entdeckt worden ist. Worauf läßt das nun schließen? Auf Organisation. Organisation. Auf einen ungeheuer mächtigen Einfluß, der hinter den Kulissen am Werk ist. Sogar in dieser Zeitschrift, die ich gerade lese« – er klopfte nachdrucksvoll auf die Seite –, »steht ein Bericht, keine erfundene Geschichte, sondern ein den Annalen der Polizei entnommener Bericht über die Organisation einer dieser Geheimgesellschaften, die Männer, gegen die sie einen Groll haben, auf eine

Weitere Kostenlose Bücher