Seine Lordschaft lassen bitten
«
In jedem anderen Monat wäre Mr. Higgins' Brief wahr scheinlich unbeachtet in den Papierkorb gewandert, aber im August ist jede Neuigkeit willkommen. Der Chefredakteur reichte den Brief weiter an den Nachrichtenredakteur, der auf einen Klingelknopf drü ckte und einen Untergebenen herbei beorderte, der wiederum durch einen Druck auf den Klingelknopf einen anderen Untergebenen herbeizitierte, der ein Namensverzeichnis der Zeitung konsultierte. Auf diese etwas umständliche Weise kehrte die Angelegenheit wieder zu Hector Puncheon zurück, der beauftragt wurde, Mr. Higgins aufzusuchen und ihm die »Sto ry« für ein paar Shillings abzu kaufen.
Mr. Higgins beliefert e die Clerkenwell Road und Umge gend. Er nahm es mit Freuden auf sich, Hector Puncheon für ein kleines Entgelt die geheimnis vollen Milchflaschen zu zei gen. Er führte ihn in eine obskure Straße und verschwand in einem dunklen Eingang nebe n einem Gemüseladen. Sie klet terten eine düstere, baufällige , nach Katzen riechende Treppe hinauf. Ganz oben standen sie, vor einer kleinen , finsteren Tü r mit einer schmutzigen Visitenkarte, die den Namen »Hugh Wilbraham« trug: fünf Viertelliterflaschen Milch. Noch nie hatte Hector etwas Trostloseres gesehen.
Auf dem Treppenabsatz befand sich ein Fenst er, das sich anscheinend nicht ö ffnen ließ. Ein saurer Gestank zog von unten über die enge Treppe herauf – unerträglich wie der Dunst eines Gasofens.
»Wer ist dieser Wilbraham?« erkundigte sich Hector und versuchte seinen Ekel zu unterdrucken.
»Weiß nicht«, erwiderte der Milchmann. »Wohnen erst seit drei Monaten hi er. Milchrechnung wurde regelmäßi g jeden Sonnabend v on der jungen Frau bezahlt. Äußerlich schäbig , aber sprechen anständig. Meiner Meinung nach ein biß chen heruntergekommen.«
»Wohnen nur die beiden hier?«
»Ja.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Sonnabendmorgen, als sie bezahlte. Hatte geweint. Sind die nun auf und davon? Das muß ich wissen wegen dem Milchgeld für diese Woche. Weiß gar nicht, was ich tun soll . Die Milch war nicht abbestellt.«
»Wissen die Nachbarn nichts?« fragte Hector.
»Nicht viel. Sie sagen, daß keine Möbel herausgetragen worden sind. Das ist schon was wert. Am besten sprechen Sie mit Mrs. Bowles .«
Mrs. Bowles wohnte eine Etage tiefer und wusch für andere Leute. Nein, sie wußte auch nicht viel über die Wilbra hams. Blieben für sich. Hielten sich wohl für was Besseres. Sie hatten im letzten Juni das Zimmer unmö bliert gemietet, und sie hatte gesehen, wie die Möbel hinaufgetragen wurden: Die Wilbrahams besaß en nicht einmal einen anständigen Stuhl oder Tisch. Alles Schund – der ganze Kram kaum ein paar Pfund wert. Der junge Mann war ihrer Ansicht nach ein Schriftsteller, weil er sich beklagt hatte, daß der Krach, den die jungen Bowles machten, ihn bei seiner Arbeit störte . Wenn er so empfindlich war, warum ist er dann hierhergezogen ? Wie alt? Na, ungefähr dreißi g. Stets mürrisch und geh äs sig. Sie hatte Mrs. Wilbraham – wenn es überhaupt eine Mrs. Wilbraham war – immer wieder weinen hören, wenn er mit ihr schimpfte.
Wann, fragte Hector, hatte sie die beiden zum letztenmal gesehen?
Mrs. Bowles machte ihren mageren Rücken gerade und tauschte ihr Bügeleisen gegen ein anderes aus. Es war muffig heiß im Zimmer.
»Hm«, erwiderte sie, »ich weiß nicht recht, wann ich sie zum letztenmal gesehen habe. Sonnabendnachmittag rannte er nach oben, und dann hatten sie sich heftig in der Wolle. Abends traf ich ihn dann auf der Treppe, als er mit einem Koffer herunterkam. Ungefahr um sechs Uhr. Er benahm sich sehr komisch und hatte es schrecklich eilig. Hat mich beinahe umgeworfen und nicht einmal ›Verzeihung ‹ gesagt. Das war das letzte Mal , daß ich ihn gesehen habe. Bis jetzt ist er noch nicht wieder da. Sie auch nicht. Sonst h ä tte ich sie schon gehört . Schrecklich , wenn er nachts hin- und herge trampelt ist und wir nicht einschlafen konnten!«
»Dann wissen Sie auch nicht, wann Mrs. Wilbraham fort gegangen ist?«
»Nein, aber fort sind sie, und meiner Meinung nach wollen die auch nicht zurückkommen. Ich sagte schon zum jungen Higgins: ›Wenn Sie weiterhin die Milch bringen, ist das Ihre Sache.‹ Na ja, wenn der Krem pel verkauft wird, springt viel leicht das Milchgeld raus.«
Hector dankte Mrs. Bowle s mit ein paar Shillings und be gab sich eine Treppe tiefer. Hier wohnte ein alter Mann, der bessere Tage gesehen zu haben schien. Er
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