Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
und hinter mir und unserem Auto herrennen. Vermutlich wünscht er mich gerade zur Hölle und belegt mich mit den schlimmsten Schimpfworten, die ihm einfallen.
Die Autobahn ist hier sehr breit. Wenn ich einfach nur das Auto quer stelle und aussteige, um mich in Sicherheit zu bringen, bleibt, genau wie mit unserem einzelnen Stopp-Stick, noch zu viel Platz. Der Mensch, der uns da entgegenkommt, könnte einfach vorbeifahren.
Die Scheinwerfer sind jetzt nur noch etwa zwei Kilometer entfernt. Ich stelle den Streifenwagen leicht schräg, fasse das Lenkrad fester und starre dem Auto, das da auf mich zukommt, entgegen, bereit, vor- oder zurückzufahren, um den Fahrer aufzuhalten. Das Gebrüll am Funk und meinen dort immer wieder ertönenden Funkrufnamen nehme ich gar nicht wahr. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder den Bus mit den Kindern, an dem wir eben vorbeigerollt sind, und das Auto, das in diesen Bus kracht.
Ich starre den beiden sich rasch nähernden Lichtpunkten entgegen. Bald ist der Wagen so nah, dass ich das Gesicht des Fahrers als hellen Fleck hinter dem Steuer ausmachen kann. Ein Mann mit Hut. Er sieht mich scheinbar genauso entsetzt an, wie ich wohl zurückschaue.
Als unsere Fahrzeuge nur noch wenige Meter voneinander entfernt sind und ich sicher sein kann, dass er nicht mehr ausweichen wird, senke ich den Kopf, schließe die Augen und denke: Besser du als die Kinder. Besser du als die Kinder! Besser du als die Kinder!
Doch der erwartete Zusammenstoß bleibt aus, und nach einer gefühlten halben Ewigkeit hebe ich langsam meinen Blick.
Vor mir steht ein silberner Mercedes-Kombi. Sein Kühlergrill berührt fast die Motorhaube meines Opels, und ein älterer Herr sitzt am Steuer und gestikuliert wild in meine Richtung. Noch während ich mich sammele, rennt Tim an unserem Auto vorbei. Vom Rastplatz rasen die beiden Streifenwagen ebenfalls entgegen der Fahrtrichtung auf die Autobahn und auf uns zu. Uniformierte Kollegen springen heraus, als die Streifenwagen mit flackernden Blaulichtern zum Stehen kommen. Von hinten sehe ich im Rückspiegel die Kollegen der Hundertschaft näher kommen, und zig Kollegen stürmen an mir vorbei auf den Mercedes zu.
Wie im Traum sehe ich, wie der Mann aus dem Auto gezerrt und auf die Motorhaube gedrückt wird. »Die Jugend von heute!«, brüllt er. »Jeder fährt, wie er will. So was ist mir ja noch nie passiert, alle auf meiner Spur unterwegs! Kaum zu glauben, wie gefährlich so was sein kann!«
Die Handfesseln meines Partners klicken in dem Moment, als ich langsam und mit zittrigen Knien aus dem Auto steige.
Ich betrachte fassungslos die Szene, als der Geisterfahrer in einen Streifenwagen gesetzt wird. Einer der Kollegen in Uniform bleibt bei mir stehen. »Geht’s dir gut?«
Ich nicke. »Brauche nur ’nen Moment, um die Beine wieder unter Kontrolle zu kriegen!«
Er nickt und setzt sich ans Steuer des Mercedes, um ihn auf den Rastplatz zu fahren. Irgendjemand nimmt meine Hand und führt mich zur Leitplanke, wo ich mich hinsetze und zusehe, wie unsere Einsatzfahrzeuge beiseitegefahren werden und der Verkehr langsam wieder anrollt.
Der Bus mit den Kindern fährt an mir vorbei, und während mir viele kleine Hände zuwinken, hebe ich ebenfalls grüßend die Hand. Ein letztes Mal blitzt das Bild des brennenden Busses und der schreienden Kinder in meinen Gedanken auf. Der Familienvater mit seinem Kombi hält auf unserer Höhe kurz an, und seine Frau ruft uns ein »Danke« aus dem Fenster zu. Dann rollt der Wagen davon.
Mit zitternden Fingern ziehe ich meinen Notfallschokoriegel aus der Tasche. Die Schokolade auf meiner Zunge bringt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück.
Gestärkt stehe ich auf, gehe zum Auto und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Wenige Minuten später taucht Tim auf und setzt sich ans Steuer. »Du bist ganz schön wahnsinnig, weißt du das?«
Ich lutsche schweigend auf meinem Schokoriegel rum. Dann sage ich leise: »Ja, aber gestoppt hab ich ihn!«
»Ja, hast du. Und du hattest verdammtes Glück, dass es nur ein dementer Opa war und kein lebensmüdes Arschloch! Wirf mich NIE WIEDER aus dem Auto!«
Ich halte ihm meinen zweiten Schokoriegel hin. »Hier, iss den, dann quatschst du nicht so viel Bullshit!«
Er versucht, böse zu gucken, und nimmt mir dann doch die Schokolade aus der Hand. »Ich hatte eine Scheißangst um dich!«, motzt er weiter und legt seine Hand auf meinen Arm.
»Ich auch!«, gebe ich kleinlaut zu, als wir in Richtung Wache
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