Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
Magnetblaulicht für unseren Zivilwagen, kurbele das Fenster runter und setze es aufs Dach, während Tim der Leitstelle unseren Standort durchgibt.
Niemand steht sonst in der Nähe, zwei weitere Streifenwagen wollen versuchen, über die Landstraße vom Rastplatz Aachener Land aus zu kommen und die Autobahn dort mit Stopp-Sticks, der modernen Version eines Nagelgurts, den man zum Stoppen von flüchtigen Fahrzeugen benutzt, zu sperren. Unsere Aufgabe ist es, den Verkehr hinter uns anzuhalten, damit niemand mehr dem Geisterfahrer entgegenfährt.
In den meisten Fällen entpuppen sich Geisterfahrermeldungen glücklicherweise als Enten. Häufig sind es Autos, die auf dem Seitenstreifen liegen geblieben sind, oder Fahrzeuge, die auf Feldwegen neben der Autobahn entlangfahren. Diesmal offenbar nicht: Gerade haben wir das Autobahnkreuz Aachen passiert, als sich die Leitstelle erneut meldet. »Es scheint zu stimmen, wir haben jetzt etwa fünfzehn Anrufer. Da kommt euch wirklich einer entgegen!«
Meine Hände werden feucht, und ich gehe im Geist unsere Handlungsmöglichkeiten durch. Die Streifenwagen, die über den Rastplatz kommen wollen, deuten bereits über Funk an, dass sie eventuell zu langsam sind, und in meinem Hirn arbeitet es fieberhaft, als wir an einem großen Streifenwagen der Aachener Hundertschaft vorbeifahren, den ich an dem in die Heckscheibe geklebten Zettel erkenne. Er hat offenbar einen anderen Funkkanal geschaltet und von dem Geisterfahrer nicht die geringste Ahnung.
Während ich unsere Fahrt verlangsame und neben dem Aachener Streifenwagen herrolle, kurbeln Tim und der Fahrer des anderen Wagens ihre Scheiben runter. Der Kollege wird ziemlich blass um die Nase, als wir hinüberbrüllen, dass uns jemand entgegenkommt. Er reagiert aber sofort, schaltet sein Blaulicht ein und beginnt, in langsamen Schlangenlinien über die Autobahn zu fahren. Die Fahrzeuge hinter uns verstehen das zum Glück, werden langsamer und schließen sich hinter uns an.
Der Kollege der Hundertschaft reckt einen Daumen in unsere Richtung, als erneut die beiden anderen Streifenwagen am Funk zu hören sind: »Mist, die Stopp-Sticks liegen noch nicht. Wir sehen ihn schon, das schaffen wir nicht mehr!«
Ein leises »Scheiße« kommt von irgendjemandem über Funk, und ich muss mich entscheiden, wie wir mit der Situation umgehen. Hinter uns hat sich eine Autoschlange gebildet, im Rückspiegel sehe ich trotz der Dämmerung einen Kleinbus voller Grundschüler und einen Familienvater am Steuer eines Kombis, im Fahrzeuginnenraum fuchteln Kinderhände herum. Die Kollegen der Hundertschaft haben mittlerweile angehalten, und der künstliche Stau hinter ihnen wird immer länger.
Mir wird heiß, während ich vor meinem inneren Auge sehe, wie der Geisterfahrer in den Kleinbus kracht, die Kinder schreien und alles in Flammen aufgeht. Was kann ich tun? Hier stehen bleiben, warten, bis der Irre ankommt, und zusehen, wie der Unfall passiert? Ihm entgegenfahren und hoffen, dass er bremst, wenn er das Blaulicht sieht? Hoffen, dass die Zeit reicht, um den Stopp-Stick aus dem total überfüllten Kofferraum zu kramen, aufzubauen und mich in Sicherheit zu bringen? Und dann auch noch das Glück zu haben, dass der Wagen auf der dreispurigen Autobahn genau über unseren einzelnen kleinen Stick fährt?
Im Bruchteil einer Sekunde habe ich mich entschieden, trete hart auf die Bremse, greife über Tim hinweg zur Beifahrertür, drücke mit der anderen Hand auf sein Gurtschloss und löse seinen Sicherheitsgurt. Dann öffne ich die Tür und schiebe ihn mit aller Kraft aus dem Streifenwagen. »Raus!«, schnauze ich ihn an.
Er wehrt sich heftig. »Bist du bescheuert? Ich lass dich doch nicht alleine!«
»Mach, dass du hier rauskommst! Du heiratest demnächst, mich vermissen, wenn es schiefgeht, nur meine Eltern. Also raus! Hast du den Bus mit den Kindern nicht gesehen? Der Arsch darf auf keinen Fall an uns vorbeikommen!«, fasse ich rasch zusammen, was ich mir gerade überlegt habe.
Tim starrt mich an, und im nächsten Moment habe ich ihm einen so harten Stoß gegen die Schulter versetzt, dass er aus dem Auto purzelt und auf dem Asphalt liegen bleibt. Ich ziehe schnell die Tür zu, bevor er sich aufgerappelt hat. Dann atme ich tief durch und trete aufs Gas.
Auf der Hügelkuppe vor mir tauchen zuerst Scheinwerfer auf und werden immer größer. Der Fahrer muss total verrückt sein. Im Rückspiegel sehe ich meinen immer noch verdutzten Kollegen rasch kleiner werden
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