Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
mechanisch auf die Straße. Das Horn jodelt auf unserem Dach, Nadine schweigt.
Vor uns plötzlich Stau, wir kommen nicht weiter, in der Baustelle ist kein Durchkommen. Kurz entschlossen jage ich den Streifenwagen in die Ausfahrt und nehme die Nebenstrecke über die Landstraße.
Vor der roten Ampel bremse ich kurz ab und trete das Gaspedal sofort wieder durch. Nadine wählt mit meinem Handy immer wieder die Nummer meines Vaters.
»Scheiße, der hat das Handy nie aus. Nie!« Ich schimpfe vor mich hin und wünsche lautstark die langsamen Fahrzeuge vor uns nach Nowosibirsk oder gleich zur Hölle.
Ein Kreisverkehr, ich muss mich hinter einem langsam tuckernden Kleinwagen einordnen. »Scheiße, Tussi, bist du blind und taub, oder was?«, fluche ich und würde am liebsten ins Lenkrad beißen.
Am nächsten Kreisverkehr probiere ich Trick siebzehn und biege direkt links ab, statt den Kreisel auszufahren. Nadine krallt sich am Türgriff fest, und ich versuche, mich selbst zu bremsen. Geht aber nicht. Im Geiste sehe ich meinen Vater bewusstlos auf der Erde liegen. Kaum habe ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich nicht mehr suizidalschnell fahre, treibt sein Gesicht vor meinem inneren Auge vorbei, und mein Gasfuß zuckt tiefer.
»Ankommen! Er hat nichts davon, wenn wir nicht ankommen …«, murmele ich vor mich hin. Nadine wählt wieder die Nummer mit meinem Handy.
Der dritte Kreisverkehr besteht nur aus einer kleinen Betonerhebung in der Mitte. Ich schalte einen Gang runter und trete aufs Gas, wir segeln mittig durch den Kreisverkehr, und das Heck bricht leicht aus. Rasch fange ich den Wagen wieder ab, ziehe leicht an der Handbremse, und wir schleudern in die Auffahrt am AK Kerpen.
Von Weitem sehe ich den Laster. Weißer Lkw, großes rotes Logo, wie ein Stoppschild. Kein Irrtum, es ist eindeutig der Lkw meines Vaters.
Ich muss heftig schlucken und spüre, wie meine Zunge nervös über meine Lippen flitzt.
Nadine lässt das Handy in Ruhe und sieht mich nur an.
»Scheiße, das ist der Grund, warum ich nicht da arbeite, wo ich wohne. NIE wollte ich so einen Einsatz haben. NIE ! SCHEISSE !« Ich haue gegen das Lenkrad und trete gleichzeitig auf die Bremse.
Der Streifenwagen kommt fast sofort hinter dem Lkw zum Stehen. AC - FB 1 . Davor sehe ich zum Glück bereits einen Rettungswagen. Die Sanitäter kauern im Böschungsbereich und verarzten jemanden, der dort liegt. Ich sehe nur Schuhe und Hosenbeine, die durchaus die meines Vaters sein könnten.
Als ich aussteigen will, sacken mir kurz die Beine weg. Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen, der Schmerz hilft, mich wieder zu fassen. Hinter mir sehe ich den zweiten Streifenwagen eintreffen.
Ich renne vor, komme aber wegen der arbeitenden Rettungssanis nicht nah genug heran, um genau zu sehen, wen die Jungs da verarzten. Also reiße ich mich zusammen und sage mir, dass die Sanitäter wichtiger sind als mein Wunsch zu erfahren, wer dort liegt. Obwohl ich es am liebsten tun würde, schubse ich niemanden zur Seite, sondern stehe unbeteiligt daneben.
Nadine funkt nach einem Notarztwagen, das bekomme ich noch mit, der Rest ist wie in Watte gepackt. Ich bin nicht fähig, irgendwas zu tun, starre nur in den Lkw, in dem sich ziemlich viel Krempel von meinem Vater befindet. Hinter der Sonnenblende ein Bild von mir und meiner Schwester. In der Mittelkonsole liegen die leeren Hüllen seiner Zigarren, und ich sehe seine dumme CD , die er in die Sonnenblende geklebt hat, weil er mir schlicht nicht glaubt, dass das bei einer Radarkontrolle rein gar nichts nützt.
Mir passiert, was mir noch nie passiert ist und auch hoffentlich nie wieder passieren wird: Ich kann meine Arbeit nicht tun.
Während die Sanis arbeiten und meine Kollegen herumwuseln, stehe ich einfach nur da und sehe in den Lkw. Mir ist schwindelig. Ich würde mich gern setzen, will aber nicht, dass die Kollegen mitbekommen, wie sehr ich neben mir stehe. Vor meinem inneren Auge rattern die Bilder der letzten Jahre vorbei. Mein Vater im Krankenhausbett. Mein Vater blass und schmal im Gesicht, mit einem leicht gelähmten Mundwinkel. Mein Vater, wie er nach Hause darf, sich schonen soll, was er natürlich nicht tut.
Ich unterdrücke die Tränen, indem ich mir wieder feste in die Hände kneife.
Scheiße, ich habe mir extra eine Stelle gesucht, die weit genug weg ist von zu Hause, damit ich nie meine Klassenkameraden festnehmen muss, keine Leichen von Menschen sehe, die ich kenne, und nicht zu
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