Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
losfahren. »Aber was hätte ich denn machen sollen? Die Grünweißen waren zu weit weg, und hinter uns … Hast du die ganzen Kinder in den Autos gesehen?«
Er nickt wieder. »Wir beide wissen, dass du alles richtig gemacht hast, dass wir keine andere Wahl hatten, außer zuzusehen, wie der Kerl irgendwo reinkracht. Und zeig mir den Polizisten, der das zulässt? Aber die hohen Herren werden sicherlich überlegen, was man alles Tolles und Kreatives sonst noch hätte tun können. Also mach dich auf was gefasst.«
Das tue ich, doch erst mal klopfen mir alle Kollegen und Kolleginnen, denen ich begegne, nur auf die Schulter. Vereinzelt bekomme ich zwar zu hören: »Du Wahnsinnige!« oder »Was hast du dir nur dabei gedacht?«, oder gar: »Ich wusste immer schon, du hast sie nicht mehr alle!« Aber im Grunde wissen alle, dass sie in meiner Situation genauso gehandelt hätten.
Erst zwei Tage später werde ich ins Chefbüro gerufen, bekomme von meinem wütenden Vorgesetzten die Standpauke meines Lebens gehalten und erklärt, dass nichts und niemand es wert sei, dass ich mein Leben auf so selten dämliche Weise gefährde. Ich muss hoch und heilig versprechen, so was nie wieder zu tun, was ich mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern erledige, denn ich weiß, ich würde es immer wieder genau so tun.
Dann beruhigt er sich und drückt mir augenzwinkernd zwei Seminareinladungen in die Hand. »Da, deine Strafe!«
In einem Seminar geht es darum, die richtige Anwendung unserer Stopp-Sticks zu erlernen. Aber das andere ist eines der heiß begehrten Seminare zum Fahrtraining bei Verfolgungsfahrten, das ich schon seit Jahren besuchen möchte, aber nie genehmigt bekommen habe.
Er grinst mich schief an und deutet auf die Tür: »Mach, dass du rauskommst!«
Kurz darauf stehe ich im Flur und betrachte hoch erfreut die Seminareinladungen.
Der ältere Herr hatte, wie sich später herausstellte, Auffahrt und Ausfahrt verwechselt und, selbst als ihm ständig Autos entgegenkamen, nicht verstanden, dass er es war, der sich auf der falschen Fahrbahn befand. Sein Führerschein wurde einbehalten, und als man ihn nach Hause fuhr und in seiner Wohnung das reinste Chaos vorfand – Müll und Unrat überall, Plastikeimer mit Kot und Urin in jedem Zimmer, verschimmeltes Essen im Kühlschrank, eine tote Katze im Schlafzimmer –, wurde dafür gesorgt, dass er eine Betreuung bekam.
Vor einem Einsatz »Geisterfahrer auf der Autobahn« hat jeder Polizist einen gewissen Respekt, denn es gibt leider keine gute und immer passende Lösung für dieses Problem. Fährt man dem Geisterfahrer entgegen, begibt man sich, so wie ich, selbst in eine nicht kalkulierbare Gefahr. Hinter dem Geisterfahrer herzufahren, ihn zu überholen und auszubremsen verbietet sich von selbst, da man so für den restlichen Verkehr ebenfalls zum tödlichen Risiko wird. Meist schafft man es sowieso nicht mehr rechtzeitig, an der Einsatzstelle anzukommen, und der Geisterfahrer hat im besten Fall bereits gewendet, die Autobahn verlassen oder auf dem Seitenstreifen angehalten. Im schlimmsten Fall kann man nur noch die meist tödlichen Reste eines Zusammenstoßes wegräumen.
Das Stoppen eines entgegen der Fahrtrichtung fahrenden Wagens stellt also ein schier unlösbares Problem dar, das die Kollegen der Autobahnpolizei allerdings trotzdem immer wieder auf irgendeine Art und Weise lösen müssen.
Manchmal misslingt das, aber meistens klappt es überraschend gut.
Irgendwann kriegen wir sie alle
2006
Wir sitzen in einer Besprechung, und ich starre geistesabwesend aus dem Fenster, während ich versuche, mir die Örtlichkeit vorzustellen, an der unsere nächste Observation stattfinden soll. Meine rechte Hand spielt mit dem Schlüssel des nagelneuen BMW , den uns eine andere Dienststelle für die Observation heute geliehen hat und den ich für Tim und mich ergattert habe.
Wenige Minuten später weiß jeder, wo er sich aufzustellen hat, wie er sich zu verhalten hat und auf wen wir warten werden. Die Stühle werden zurückgeschoben, und jedes Team macht sich auf den Weg zu seinem Auto.
Tim lässt sich auf den Beifahrersitz fallen, und ich frage eigentlich nur der Form halber nach, ob er wirklich nicht fahren will. Ich weiß, dass Tim ungern fährt. Seit vielen Monaten verbringen wir acht Stunden täglich zusammen in einem Auto, und meist sitze ich am Steuer. Ungewöhnlich, da die meisten männlichen Kollegen total scharf aufs Fahren der Streifenwagen sind. Und trotz Emanzipation
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