Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
lass uns mal ein Stofftier aussuchen, das wir mitnehmen. Was meinst du, Lisa?«
Meine Stimme ist hell und klar, und ich lächle verkrampft. Fröhlich klettert Lisa von meinem Arm und hopst mit ihren kleinen Füßen über die Hundescheiße und die Glasscherben am Boden in ihr Zimmer. Im nächsten Moment hat sie einen kleinen Stoffesel unterm Arm. »Esel kommt mit, Esel kommt immer mit. Esel, wir gehen mit den Engelchen. Darf ich auch ein Buch mitnehmen? Damit du mir was vorlesen kannst?«
Als sie auch das ausgesucht hat, höre ich endlich die Sanitäter im Flur. Ich hebe das Kind wieder hoch und trete, mit Stofftier und Buch ausgerüstet, in den Flur.
Auf dem Boden neben der Frau hocken jetzt zwei Sanitäter und versuchen, ihre Verletzungen zu begutachten. Als sie mich mit dem Kind in dem total verdreckten und mit blutigen Wandzeichnungen versehenen Flur stehen sehen, entgleisen ihre Gesichtszüge. Der eine senkt sofort den Blick, als würde das Kind verschwinden, wenn er es nicht länger ansieht. Der andere formt mit den Lippen tonlos das Wort » FUCK !«.
Mein Kollege lehnt im Hausflur am Treppengeländer und gibt die Informationen per Funk an die Wache weiter. Ich bin froh, dass er trotz der mehr als absurden Situation so gut ohne meine Hilfe funktioniert, und quetsche mich an der Frau und den Sanis vorbei ebenfalls in den Flur.
Die Kleine strahlt Christian an, und ich sehe, dass es ihm guttut, ihr Lächeln zu sehen. »Kommst du auch mit spielen? Bist du der Freund von dem Engelchen?« Mit einer kleinen blutigen Hand zeigt sie auf mich.
Er lacht sie an, und ich sehe, wie auch dieses Lachen ihm hilft, mit der Situation klarzukommen. »Ja, ich komm auch mit spielen.«
Die Kleine klatscht in die Hände, offenbar total unbeeindruckt von den fremden Leuten und der Hektik, und klettert von meinem Arm auf den des Kollegen. »Liest du mir was vor?«
Total perplex nickt er und lässt sich mit ihr auf dem Treppenabsatz nieder. Ich höre meine Stimme ziemlich rau und trocken sagen: »Kommst du damit klar?« Er nickt und beginnt sofort, mit ruhiger Stimme vorzulesen: »Benjamin Blümchen«.
Seine Stimme beruhigt nicht nur die Kleine, sondern auch ich bekomme wieder Boden unter den Füßen und finde zu den Dingen zurück, die getan werden müssen. Während ich in die Wohnung zurückgehe und Fotos von Dreck und Chaos mache, schallt immer wieder glückliches Kinderlachen vom Hausflur herüber.
Die Mutter hat mittlerweile aufgehört zu wimmern und wird von den Sanitätern gerade in einen Transportstuhl gehievt. Sie sperrt sich, tritt und schlägt um sich und kreischt plötzlich los. » IHR NEHMT MIR MEIN KIND NICHT WEG !«
Ich sehe, wie einer der Sanitäter das tut, was auch mein erster wütender Impuls war: Er hebt die Hand zum Schlag. Doch bevor seine Finger auf das total verquollene Gesicht klatschen, treffen sich unsere Blicke, und seine Hand verharrt bewegungslos in der Luft.
Die Frau kreischt weiter. Wir sehen uns stumm an, langsam schüttele ich den Kopf, der Sani lässt zögernd Blick und Hand sinken.
Auch ich bin wütend auf die, wie ich jetzt am Geruch feststelle, total betrunkene Frau, auf die Zustände, auf jeden, der das hier möglich gemacht hat. Auch auf die Nachbarn, denen erst dann einfällt, die Polizei zu rufen, wenn ihre Nachtruhe gestört ist, und von denen sich trotz des Lärms bisher nicht einer hat blicken lassen.
Auch ich würde die Frau am liebsten schütteln und ihr eine runterhauen, aber das ist es, was uns zu den »Guten« macht: Wir können uns beherrschen in solchen Situationen.
Knipsend gehe ich mit der Kamera von Raum zu Raum. Banne das Chaos auf meine Speicherkarte. Der Hund liegt immer noch röchelnd auf dem Sofa, auch sein Fell ist voller Blut. Vorsichtig betaste ich ihn, finde aber nur kleine Schnittwunden an den Pfoten, die er sich vermutlich beim Laufen über die Glassplitter zugezogen hat.
Im Wohnzimmer finde ich dann endlich die Dinge, die mir helfen zu verstehen, was passiert ist. In einer Ecke ist eine große Blutlache, zerbrochene Bierflaschen kleben in der geronnenen, schleimigen Masse. An einer Ecke des schweren Marmortischs klebt ein Fetzen Kopfhaut mit Haaren. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Frau betrunken durch die Wohnung taumeln, sehe sie ausrutschen und fallen. Ich höre das Knirschen, als ihr Kopf mit voller Wucht auf die steinerne Tischkante schlägt, sehe, wie sie bewusstlos in die Bierflaschen fällt. Überall ist Blut. Ich sehe die Kleine, wie sie sich
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