Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
blutige Finger holt, als sie der Mutter helfen will, deren Arme und Rücken von den Glasscherben zerschnitten wurden.
Keine Straftat, kein versuchter Mord, kein prügelnder Ehemann. Keine Gefahr für uns, kein Grund, die Waffe zu ziehen. Lediglich ein Sturz im Alkoholdusel.
Ich wische mir mit der Hand über die Augen und höre im gleichen Moment die glockenklare Kinderstimme. »Die Mama ist hingefallen und hat sich weh getan. Ich habe im Bilderbuch geguckt, wie der Doktor die Leute untersucht, und das bei der Mama nachgemacht. Wird sie bald wieder gesund? Lies mir noch eine Geschichte vor!« Die ruhige Stimme meines Kollegen erklingt wieder, als er weiterliest.
Nirgendwo finden sich Ausweispapiere, weder die des Kindes noch die der Frau. Wir haben zwar die Überprüfung unseres Funkers, aber ich würde dennoch gerne sichergehen, hier auch wirklich Frau Schulze und ihre Tochter Lisa vor mir zu haben.
Irgendwann breche ich die Suche ab und schalte alle Lampen und elektrischen Geräte ab. Die Sanitäter tragen die mittlerweile still auf dem Transportsitz hockende Frau die Treppe runter. Ihr Kopf schlenkert von links nach rechts. Mit ihrem noch intakten Auge versucht sie mich zu fixieren. »Wenn du mir mein Kind wegnimmst! …« Der Rest ihrer Drohung verhallt im Treppenhaus. Zwei Feuerwehrmänner erscheinen und packen den kleinen Hund, der sich mittlerweile ein wenig erholt hat und kläffend um uns herumläuft, in eine Transportkiste.
Müde ziehe ich als Letzte die Wohnungstür hinter mir zu. Stumm gehen wir durch den Hausflur, nur die Kleine plappert unentwegt weiter. Nicht eine Tür öffnet sich. Keiner der anderen Bewohner sieht nach, warum es so früh am Morgen so laut ist im Haus. Niemand interessiert sich für das kleine Mädchen mit dem strahlenden Lächeln.
Der Kollege setzt sich mit ihr auf den Rücksitz, ich suche seinen Blick im Rückspiegel. Die Tränen sind aus seinen Augen verschwunden, aber die Fassungslosigkeit ist noch da. Dahinter erkenne ich den Blick des Polizisten, die Härte, die man braucht, um an solchen Dingen nicht kaputtzugehen. Ich sehe, dass es ihn zwar schockiert, dass er auf so etwas nie vorbereitet war, aber dass er schon klarkommen wird. Ich sehe, dass er die tröstend gemeinten, aber oft eher hilflosen und manchmal sogar taktlosen Sprüche der Kollegen wegstecken wird und dass er die Kleine mit ihrem blutigen blonden Haar, der er »Benjamin Blümchen« vorlesen musste, vermutlich nie vergessen wird. Doch auch das wird für ihn nicht zum Problem werden.
Vorsichtig stellt er dem Kind die wichtigen Fragen. »Kocht deine Mama für dich? Hast du Hunger? Gehst du in den Kindergarten? Hast du Freunde? Wie oft hast du geschlafen, seit die Mama hingefallen ist? Wo ist dein Papa?«
»Die Mama kocht nicht so oft. Durst hab ich. Im Kindergarten war ich nicht mehr, seit die Mama gefallen ist. Weiß nicht, wo der Papa ist. Böse ist der, sagt die Mama, genau wie die Oma, die ist auch böse.« Die Kleine plappert munter drauflos und kuschelt sich zutraulich an ihn. Beruhigt starte ich den Wagen und fahre zum Kinderheim.
Zwei Stunden später stehe ich auf der Wache in der Damentoilette. Unsere Berichte sind geschrieben, alle zuständigen Stellen benachrichtigt, die Kleine ist gut untergebracht. Unsere Arbeit ist getan.
Ich stütze mich auf das Waschbecken und starre in den Spiegel. Auf der Wange habe ich eine kleine Blutspur, die ich vorsichtig wegputze. Ich spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und schaue wieder in den Spiegel. Meine Lider flattern, die Pupillen sind riesig, als wäre ich auf Drogen, und die Übelkeit ist wieder da. Das Gefühl der Panik, das mich erfasste, als ich das Kind erst nicht fand, klettert langsam wieder in mir hoch. Ein metallischer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Wütend spucke ich in das Becken und frage einen Gott, an den ich nicht glaube, warum er so etwas zulässt.
Als ich wieder in den Spiegel schaue, finde ich nach kurzer Suche auch in meinen Augen die Professionalität wieder, die heute kurz in einem Abgrund der Fassungslosigkeit verschwunden war. Auch ich werde damit klarkommen. Jedes Mal, wenn das Einsatzstichwort in den nächsten Wochen »hilflose Person« lautet, werde ich wahrscheinlich ein leichtes Ziehen im Bauch verspüren und die blutigen Fingerchen von Lisa vor Augen haben. Heute Nacht werde ich von dem schaurig schwarz geschwollenen Gesicht ihrer Mutter träumen, aber in wenigen Tagen wird die Erinnerung verblassen. Der Schock
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