Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
metallischer Blutgeruch aus nahezu jedem Zimmer entgegen. Mein Blick fliegt von rechts nach links. Ich höre, wie der Kollege die Frau befragt, aber nur wenige klare Antworten bekommt, während ich versuche, mir in dem Chaos aus Müll und Unrat einen Überblick zu verschaffen.
Die ersten drei Zimmer sind leer. Eines ist eindeutig ein Kinderzimmer. Glasscherben und Hundekot, wo ich hinschaue. Auf dem Sofa im Wohnzimmer finde ich den dazugehörigen Hund. Röchelnd und augenscheinlich halb verdurstet, verdreht der kleine räudige Mischling bei meinem Anblick die Augen und jault. Mit zitternden Fingern ziehe ich Wäscheberge und Decken vom Sofa, die ganze Zeit darauf gefasst, ein totes Kind zu finden. »Das ist ein Tatort, ein Tatort. Fass so wenig an wie möglich. Tritt nirgendwo drauf. Pass auf, hier kann noch jemand sein. Pass auf!!«, hallt es in meinem Schädel wider, doch je länger meine vergebliche Suche dauert, umso schneller bewege ich mich, und umso hektischer werden meine Bewegungen.
Das vierte Zimmer scheint eine Art Schlafzimmer zu sein. Unter Gerümpel erkenne ich das Bett. Das Fenster ist offen, und im Raum ist es eiskalt. Mit dem nächsten Blick erfasse ich den kleinen blutigen Arm, der aus einem Stapel Decken auf dem Bett herausragt. Mir entfährt ein Schrei, ich stürme nach vorne, unterdrücke den ersten Impuls, die Decken vom Bett zu reißen, und fasse nur ganz vorsichtig den kleinen Arm an.
Er ist kalt. Mir wird schlecht, ich muss würgen, um die Übelkeit zu unterdrücken, aus Angst vor dem, was ich jetzt finden werde. Ich knie mich neben das Bett und schiebe vorsichtig die Decken beiseite. Der kleine Körper, zu dem der Arm gehört, ist ebenfalls kalt. Es ist ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, die blutverkrustet an ihrem Kopf kleben. Sie ist höchstens vier Jahre alt und trägt nichts außer einer schmutzigen Windel.
Mit zitternden Fingern taste ich nach ihrer Halsschlagader, während ich laut durch die Wohnung rufe: »Kind gefunden!«
Christians leise Frage kommt sofort: »Lebend?«
»Nein«, will ich trotz des dicken Knotens in meinem Hals antworten, als die Kleine plötzlich die Augen aufschlägt und mich aus runden, hellblauen Kinderaugen ansieht.
Mir fällt einer der größten Steine meines Lebens vom Herzen, und ich rechne gleichzeitig damit, dass das Gesichtchen sich im nächsten Moment zu dieser hässlichen kleinen Fratze verziehen wird, die Kinder schneiden, bevor sie in Tränen ausbrechen. Doch sie sieht mich nur still an und wirkt plötzlich uralt.
Dann lächelt sie, und ihre weißen Milchzähne blitzen auf. Sie streckt mir ihre kalten Ärmchen entgegen und flüstert: »Bist du ein Engel? Nimmst du mich mit?«
Ich bin nicht in der Lage zu antworten. Stattdessen nicke ich und nehme sie vorsichtig auf den Arm. Am Boden in einer getrockneten Blutlache sehe ich eine kleine Hose und einen schmutzigen Pullover. Während ich dem Kollegen erleichtert erkläre, dass die Kleine offensichtlich munter ist, streife ich ihr die Kleider über, streiche ihr vorsichtig das krustige Haar aus dem Gesicht und ziehe ihr auch noch zwei Schuhe an, die ich auf einem der Regale stehen sehe.
Sie ist zart wie eine kleine Elfe. Mit wenigen Blicken und vorsichtigen Berührungen am Kopf erkenne ich, dass sie offenbar unverletzt ist und das Blut nicht ihres. Sie wirkt aufgeweckt und munter, leise frage ich sie nach ihrem Namen.
»Lisa, die Mama sagt auch Lissy. Die Mama ist krank. Ich muss fein leise sein!«, erklärt sie ernsthaft.
Ich schlucke hart, bevor ich antworte: »Ja, die Mama ist krank. Die kommt jetzt zum Doktor, und du kommst mit uns. Ein bisschen spielen. Wäre das toll?«
Sie strahlt mich an. »Ja, das wäre toll. Gibt es bei euch auch was zu trinken, und kann man im Himmel auf einem Wölkchen sitzen?«
Ich nicke und gehe mit ihr in den Flur.
Mein Blick begegnet dem meines Kollegen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn mit der seltsamen Frau ganz allein gelassen habe. Er wirkt geschockt, und ich sehe, dass er mit den Tränen kämpft. Auf alles hat man ihn im Studium vorbereitet – auf Bombenanschläge, auf schreckliche Unfälle, auf Gewalt. Aber auf so etwas? Auf so etwas wohl eher nicht.
Vorsichtig kauert er jetzt neben der Frau am Boden, streicht ihr ein wenig hilflos über das Haar, um sie zu beruhigen, und sieht mich und das Kind immer wieder fassungslos an.
Ich gebe ihm ein paar Minuten, damit er sich sammeln kann, und trage die Kleine ins Kinderzimmer. »Dann
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