Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
Vom Netzwerk:
Verschütteten, der Heilige der Schluchtenstürzer, der Schneekanonen, der Heilige derer, die der Berg ruft, die Gott zu sich ruft, indem er den Berg rufen lässt, komm, komm, lass alle Angst fahren, komm immer näher hinauf, ganz hinauf, komm mir ganz nah, ganz nah zu mir, bis du meinen Herzschlag hören kannst, bis dein Tritt keinen Halt mehr hat, bis der Schnee dich umschließt, als wärst du ein Insekt im Stein für die Ewigkeit. Du Heiliger der Waghalsigen, die nur zwei Finger vom Tod trennt oder dem Zauber der dünnen Luft, die reiner ist und die durch einen fließt, als wäre sie unendlich und nicht nur die zweite, dritte Luft. Als wäre da ein Wind in den Wolken, ohne den man ersticken würde, fängt man ihn nicht mit dem letzten Atem ein.
    Aber welcher Heilige hätte Ödön noch helfen können? Er starrte auf die Pieta. Sie irritierte ihn. Schon als er in der Bank gesessen hatte, kroch ihm ein Unbehagen vom Magen hoch. Er hatte sich bedroht gefühlt, nicht getröstet. Die Skulptur war aus einer einzigen Wettertanne geschnitzt, mit der Axt aus dem Baum gehauen. Dieser knorpeligen Tanne, deren Wurzeln jetzt gekappt waren. Die Pieta ruhte auf einem Lichterbaum, der zu beiden Seiten kahle, entzweigte Stämme in die Luft streckte. An jedem Stamm drei dicke Kerzen auf Eisenschalen. Wie auf der Stirn eines Ungeheuers, dachte er sich, sitzt sie da, auf der Stirn eines Stiers, dessen Hörner brennen. Sein Körper wäre hinter der Wand, phantasierte Ödön, der Stier schnaubte, drückte gegen den Stein, aber die Ruhe der Pieta war nicht zu stören. Eine Pyramide der Mantel, unter dem Maria dem seitlich knienden Erlöser unter die leblosen Arme griff, während seine Dornenkrone gegen ihre Brust drückte. Ödön hatte sich gewünscht, sie würde den Mantel schließen, Jesus verbergen vor der Welt, vor seinen Blicken, dieser tödlich verwundete Körper, Vater, Vater, warum, warum hast du mich verlassen, Vater.
    Ödön waren die Tränen über die Wangen geflossen, unter seinem Helm hatte er geweint, geheult, hatte es seine Brust durchzuckt. Aber wie teilnahmslos waren Maria und Jesus, wie längst nicht mehr von dieser Welt. Was, wenn sie beide die Augen öffneten, jetzt? Was, wenn er seinen linken Arm höbe? Was, wenn Harz aus den Wunden flösse, all die Wetter aus dem Holz herausbrächen, denen die Tanne widerstanden hatte, bis sie sich nicht länger biegen konnte, sondern brach, gebrochen wurde. Mit wie viel Axtschlägen niedergeschlagen? Warum hatte niemand die Kerzen angezündet? Könnte er einfach nach vorne gehen und sie anzünden? Er hoffte, als er so aus dem Beichtstuhl hinüberblickte, der Pfarrer würde sie entbrennen, bevor er zu ihm kam.
     
    »Wird es einen Toten geben, einen Toten«, mahnte ihn seine innere Stimme, einen Toten, den nächsten Toten, er muss sterben. Wird es einen Toten geben?
    »Wie heißt du denn?«, hatte er den Jungen gefragt, ohne es wissen zu wollen. »Ist dir kalt? Mir haben auch immer die Finger gefroren. Willst du eine Mannerschnitte?«
    Es war einfach aus ihm gekommen, er hatte die Worte, die Sätze nicht zurückhalten können und mit ihnen die Erinnerung, es war wie ein Reflex, unkontrollierbar, eine Zündstufe, die in seinem Unterbewusstsein gezündet wurde, und dann sprach seine Zunge wie von selbst.
    »Igor. Das ist ein außergewöhnlicher Name. Ist das nicht russisch?« Er hatte sich nicht erklären können, wie, aber in diesem Talstation-Trubel war er plötzlich mit dem Jungen allein in der Gondel gewesen, er war der letzte seines Skikurses, sie hatten sich gestritten und ihn rausbugsiert, geschoben, ausgeschlossen.
    »Oder bist du etwa ein kleiner Russenjunge?«, hatte er ihn noch fragen wollen, aber der Kleine ignorierte ihn, schaute aus dem Fenster in das zunehmende Schneetreiben, träumte sich irgendwohin, träumte sich größer, träumte sich auf ein Board, Saltos in der Luft schlagend, den anderen um die Köpfe fliegend, sie auslachend, seine Augen entfernten sich immer mehr, sodass er sogar vergaß, sich die frierenden Hände zu reiben und den schwarzen Mann gegenüber vergaß.
    »Wird es einen Toten geben«, murmelte er, jetzt schon im Beichtstuhl. Es war schon auf seinen Lippenspitzen. Er musste es laut aussprechen, klar aussprechen, laut und klar, dem Beichtvater ins Gesicht, auch wenn er ihm nicht ins Gesicht schauen würde, sondern durch eines der Löcher hinaus in die leere, kalte Kirche. Sein Beichtvater wird sich sicherlich irgendeinen Seitenblick angewöhnt und

Weitere Kostenlose Bücher