Seine Zeit zu sterben (German Edition)
nicht trinkt, dass es nicht raucht, dass es nicht die Nächte durchtanzt. Wer mit mir schläft, schläft mit meinem Kind, pass auf, dass es niemand anrührt, dass mir niemand die Schenkel auseinanderdrückt und es ansticht, mit seiner Zunge kitzelt, pass auf, dass ich nicht zu schwer hebe, dass ich nirgends runterspringe, dass ich keine Tabletten schlucke.
Aber sie sagte nichts von all dem, sondern drehte ihn um: »Da draußen, siehst du den Sturm, uns bläst es gleich weg, das ist wie ein großes weißes Rauschen auf diesem Riesenbildschirm, und wir sind die Idioten dahinter, das Streifcamp. Schau sie dir alle an, tun so, als ob nichts passiert sei, haben keine Angst, der Sturm könnte ihre Autos in die Hand nehmen und durch die Scheibe schleudern.«
»Die stehen in der Tiefgarage.«
»Müssen wir nicht da raus? Haben wir nichts Besseres zu tun, als auf die Promis aufzupassen, dass sie sich nicht an den Lachsbrötchen verschlucken oder mit den Hummerscheren die Schwänze abschneiden oder die Froschschenkel in die Augen bohren?«
»Bonnie, du redest, als hättest du getrunken. Du hast doch nicht getrunken?«
»Ich bin im Dienst, ich trinke nicht im Dienst, wenn mein Dienst nicht trinken ist. Hör mal im Funk, was los ist. Da muss doch die Hölle los sein. Ein Schneeanschlag. Al Qaida schießt aus allen Schneekanonen. Hol mir bitte eine Brezel.«
Sie wollte hinzufügen: »Und saure Gurken, Gürkchen auf Schokoladentörtchen.« Aber es war lächerlich, so zu tun, als wäre sie schon im siebten Monat schwanger. Aber irgendwie gefiel es ihr sehr, sie fühlte sich nicht mehr einsam. Plötzlich lächelte sie in den Raum, in die tanzende Menge, die es den Teufel scherte, was da draußen gerade los war, dass die Welt unterging, dass ein Rennläufer im Koma lag, dass die Autos von den Straßen rutschten, dass Menschen vielleicht erfroren, eingeschneit wurden, ohne Verbindung zur Außenwelt. Auch sie hatten keine Verbindung zur Außenwelt mehr, der Sturm, der Schnee war eine Wand, durch die man nur laufen konnte, wenn man den Kopf dafür hatte. Warum nicht auch ein Glas Champagner jetzt, Champagner war doch erlaubt, oder? Einen Schluck. Warum hatte sie so verachtend auf die Leute geschaut? Sie feierten, warum sollten sie nicht feiern? Sie waren schön, viele waren schön, schöne Frauen, schöne Frauen, die meisten in Schwarz, in kurzen schwarzen Kleidern, schwarze Anzüge, weiße Hemden. Ein Totentanz, dachte sie und erschrak über das Wort, das ihr aus dem Bauch kam. Mein Bauch redet, lächelte sie, es lebt, er lebt, mein Junge.
»Wo bleibst du denn so lange«, fuhr sie Schatterer an, aber ganz heiter auf einmal, der Schmerz war wie weggeblasen. »Und wo ist meine Brezel?«
Schatterer blickte um sich, klärte die Lage, prüfte, ob jemand zuhörte, aufschnappen konnte, was er ihr im nächsten Moment anvertrauen würde und nahe an ihrem Ohr zuflüstern, anschreien gegen die Musik: »Ein Junge ist verschwunden!«
4
Eigentlich hätte Ödön nicht die Hahnenkammbahn nehmen wollen, sondern über den Jochberg und dann die Schwebegondel, die 3S, sich langsam bis zur Hahnenkammkapelle vorarbeiten wollen. Wie eine Trutzburg stand sie da, wie eine Blombe, die Gott aus seinem Mund gefallen war, nachdem er in einen seiner Planetenäpfel gebissen hatte. Auf dem von einer Steinmauer umfriedeten Plateau thronte sie über den Pisten, baute sich dem Wilden Kaiser gegenüber auf wie ein Terrier vor einer Dogge, als müsste sie das Gebirge davon abhalten zu wandern, sich immer näher zu schieben mit seinen reißenden Zähnen, dieses Steine spuckende Ungeheuer, das nachts zitterte. Diese krönende Felswand, in der alle Schönheit versteinert lag und bei jedem Atemzug einen unsichtbaren Kieselsteinbrösel in der Lunge zurückließ. Und auf Augenhöhe die Kapelle mit ihrem schlichten Turm, den Schindelschuppen, dem Kreuz im Himmel für das Kreuz mit dem Himmel, die weißen Mauern, nicht vom Schnee unterscheidbar. Wenn der Himmel ins Bodenlose fällt, wird sie ertrinken wie die Kirchen auf dem Grund der Stauseen.
Sie war Ödön immer unwirklich vorgekommen, wie aus einer fremden Zeit. Dabei war sie gerade mal fünfzig Jahre alt. Geweiht dem Bernhard von Aosta, dem Schutzheiligen aller Bergbewohner, Bergbesteiger, aller Pistenparadiesvögel und Schneereiter. Der heilige Bernhard, der die Gestürzten mit Hunden rettete, die sie nach ihm benannt haben, die Hunde nach dem Heiligen, die Lawinenhunde für die unter ihrem Unglauben
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