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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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das erste Mal in Afrika den Boden berühren und ihre Seele in die Knie geht, aus dem Brunnen zu trinken, aus dem wir geschöpft wurden. Ihm war ähnlich zumute, er fühlte sich in einem Echoraum, das Glück rief und rief, ich bin hier, ich bin hier, du gehörst mir, du gehörst hier, hier, hierher, nur mir. Warum musste er die Ohren versperren? Er hatte die Musik unter dem Helm voll aufgedreht, aber die Sirenen lachten ihn nur aus, die Gondel hatte sich geschüttelt vor Lachen, und ihm gegenüber hatte ein Junge gesessen, der nicht aufhören konnte, ihn anzustarren, und es mit der Angst zu tun bekam. Als wäre er, Ödön, seinem Albtraum entsprungen und könne nicht mehr aufwachen und alle Schreie erstickten in der Kehle, um die sich die eigenen Stimmbänder schlossen. Den Jungen hatte gefroren. Ödön hätte ihm am liebsten die Hände warm gerieben, heiß zwischen seine Finger gehaucht, als würde er auf ein Blatt blasen, wie als Kind, als sie Cowboys spielten und sich die Lippen an den scharfen Rändern der Gräser wundbliesen, sich die Spreißel in die Oberschenkel trieben und Blutsbruderschaft schlossen mit dem Blut ihrer blutigen Knie, was nicht zählte, weshalb sie sich mit dem Taschenmesser fast die Pulsadern aufschnitten und wie die Schweine blutend, Handgelenk an Handgelenk gepresst, auf dem Stein saßen und in die weite Prärie mit tränenverdrückten Augen starrten.
    Ödön liebte diese Narbe, versteckt unter seinen schwarzen Fäustlingen, in denen er seine Fäuste geballt gehalten hatte, als die Gondeltür sich quietschend geschlossen hatte, nach endlosem Warten. Zu Tausenden waren sie gekommen, die Streif zu sehen. Ödön war früher auch einer von ihnen gewesen, einer Skikaria, der Blosn, des selbsternannten Jetset, war Teil der armen Reichen und der reichen Armleuchter, Teil der Überihreverhältnisseprasser und der Unterihremniveauasketen. Er hatte dazugehört und nie zugehört, wenn sie die Märchen ihrer unerhörten Gewinne feilboten. Natürlich waren hier Leute mit echtem Geld, ehrlich verdientem Geld, hart verdientem Geld, Leute mit Geld, aber schlechtem Geschmack, und Leute, die sich guten Geschmack leisten konnten, in dem sie andere kauften, die für sie einkauften, einrichteten, arrangierten.
    Hätte man sie obduziert, man hätte Preisschilder auf ihren Herzklappen gefunden, und ein leeres Kaschmirjäckchen, falls da eine Seele sein könnte, die dort fröre. Nur, wer sollte sich aufregen? Die Einheimischen? Verachtung war keine Währung, mit der sich Hotels bauen ließen. Sie schauten fast wehmütig auf diese sonderbare Bussi-Barbarenbande, die regelmäßig, wenn Weihnachten nahte, einfiel und alles niederfraß und wegsoff. Hätte niemand gedacht, es könnte schlimmer kommen, war es schlimmer gekommen. Irgendwie, hatte Ödön einmal gedacht, ist Kitzbühel wie Kalifornien, und der Gedanke hatte ihm gefallen: alle warten auf die große Welle.

3
    Mein Kind, ich habe mein Kind verloren, meinen Jungen! Bonnie hielt die Hand auf ihren Bauchnabel, als wäre die Bewegungslosigkeit unter ihm der untrügliche Beweis, dass das Baby tot wäre. Eine Totgeburt, sagte sie sich, ich gebäre einen toten Jungen, und sie sah, wie er blutig zwischen ihre Schenkel fiel, ein leichenblasser Junge, ein großer Junge, ein Lächeln in den Augen, in dem ihre Pupillen festgefroren waren, überall Schürfwunden, blaue Flecken von Tritten, Missbrauchsspuren, der Abdruck eines Stricks um den Hals, eine dünne rote Linie, ein toter Junge, ihr Junge, aber sein Herz schlug noch, ein toter weißer Körper, aber das Herz schlug, schlug wie unter einem weißen Vorhang, drückte sich durch die Haut hinauf, wollte aus der Haut fahren.
    »Alles in Ordnung, Bonnie?«, legte Schatterer behutsam die Hand auf ihre Schulter.
    Bonnie öffnete die Augen, noch ganz benommen. »Ja, alles in Ordnung, bestens, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen, Unterzucker vielleicht, ja, vielleicht Unterzucker. Wie ist die Lage?«
    »Warum hältst du dir dauernd den Bauch, Bonnie? Hast du dich verletzt?«, ließ er nicht locker und beobachtete ihre Reaktion. Er wusste, wann sie log, wann sie Schmerzen wegdrückte, sie in die Tasche drückte, wusste, wann sie ihre Tage bekam, bevor sie es wusste. Lange hatte er sich eingebildet, ihr Schutzengel zu sein, sie aus der Schusslinie zu nehmen, sich in jede Kugel zu werfen, die auf sie abgefeuert wurde, in jeden Blick. Aber mehr als vor anderen hätte er sie vor sich selbst schützen müssen, hätte unter

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