Seine Zeit zu sterben (German Edition)
»Der heilige Gral«, hätte sie bei ihrem Sohn aufgeschnappt. Aber wahrscheinlich hätte er nichts gesagt, war verstockt, verstört, keiner der Jungs hätte etwas gesagt.
Stellen Sie sich vor, was für ein Armageddon für den Ort, für die Skischulen, ein aus der Luft gegriffener Verdacht, der sich wie ein Lauffeuer ausbreitet, ein Flächenbrand, ein Frostbrand, der durch die Stadt tobt. Sofort wären überall die Kameras da, irgendjemand hätte es den Medien gesteckt, der Huller ist ein Kinderficker. Ein Todesurteil. Wenn ich mich in ihn hineinversetze, können Sie sich in ihn hineinversetzen, was das bedeutet, so ein Gerücht, wenn jemand so ein Gerücht in die Welt setzt, das einem die Luft zum Leben abschnürt, ein Gerücht, das immer mehr Gewicht bekommt, niederdrückt, verfolgt, abstempelt, verurteilt. Ein Rufmord. Rufmord ist in unserer Mediengesellschaft nichts als ein Kavaliersdelikt. Wen interessiert es später, wenn es nicht gestimmt hat? Was hätten Sie gemacht? Was würde ich machen? Ich wäre abgehauen. Was hätte ich an Hullers Stelle gemacht, wenn ich Huller wäre? Wollen wir dieses Spiel durchspielen? Ich bin überzeugt: Er wäre auch abgehauen. Auf Skiern. Er wäre jetzt irgendwo oben und sie würden ihn mit Hubschraubern suchen. Aber sie konnten es doch nicht riskieren, die Gäste zu verunsichern, das würden sie nicht tun.
Nein, vergessen Sie das. Wir brechen hier ab. Es hat dieses Interview nie gegeben. Wir sollten uns auf das Sportliche konzentrieren.«
Grünsee hatte kurz gestockt, als der Journalist später anrief, nicht lockerließ.
»Wie, habe ich Sie richtig verstanden? Ob Huller mein Mandant sei? Man hätte mich mit Huller gesehen? Kaufen Sie sich einen Hula-Hoop-Reifen. Ja, und grüßen Sie bitte ihren Chefredakteur herzlich von mir, er möchte sein Handikap nicht aus den Augen verlieren.«
6
»Bring mir den Kleinen, bring mir die kleine Ratte, Andrej!« Ich blas ihm das Hirn weg, seinem Vater, hätte ich antworten sollen. Ich drück ihm die Fresse in den Schnee, bis es an seiner Spucke festfriert und sein Gesicht kleben bleibt wie ein geplatzter Luftballon, wenn ich seinen Kopf wegzerre. Dann wird er seine Schulden bezahlen, oder Väterchen Frost wird sich weiter um ihn kümmern. Ich werde ihn zu Eiswürfeln stückeln und sie in ihre Aperol Sprizz knallen, was immer du willst! Aber ein Kind? Ich bin ein Killer, aber kein Kindergärtner.
Schon dass ich mir für deine kleinen Mädchen einen Bart ankleben und die Bandscheiben ruinieren muss, wenn sie auf meinem Rücken reiten, erniedrigt mich. Wenn sie auf mich zielen und mich mit ihren Fingern erschießen, muss ich tot umfallen, und dann liege ich auf dem Rücken und denke, ich sei tot. Das Blut erfindet rote Meere auf meinem frisch gebügelten weißen Hemd, das in Wellen an meinen Bauch brandet. Onkel, du hast dir weh getan, Onkel, du blutest ja, da tritt Schaum aus deinem Mund, Onkel, deine Pupillen, wo sind die, es schneit in deinen Augen, Onkel, was ist das für ein Wind, der da auf deinen Lippen steht, nach Moskau, nach Moskau, der Onkel hat lauter Löcher in der Brust, in die wir unsere Finger stecken können, schau mal, Onkel, rote Fingerfarben, wir malen dir einen roten Bart, jetzt sieht er ganz böse aus, der Onkel, er hat eine Ketchup-Flasche unter seinem Hemd versteckt, überall Scherben, Onkel steh auf, warum stehst du denn nicht auf, Onkelchen, du fauler Onkel, Papi kommt und bricht dir die Beine. Ich liege auf dem Rücken und ich kann mich nicht bewegen, sie lachen und denken, ich spiele mit ihnen, und dann kommt auch noch der Köter der Kleinen, dieser gepuderte Pudel, und schleckt mich ab, schleckt über mein Gesicht, und ich bin wie gelähmt, das Rückgrat gebrochen, und plötzlich drückt mir seine Frau ihre aufgespritzten Titten ins Gesicht, und ich hab nicht nur Angst, dass ich ersticke, sondern er mir, wenn er uns so sieht, den Schwanz abschneidet und dem Pudel in den Rachen steckt, der damit abhaut. Die Schmerzmittel verzerren meine Wahrnehmung, ich habe Panikattacken hinter meinen eingefrorenen Gesichtszügen, hinter meiner Wartestellung. Ich mache ja nichts als Warten oder Kehlen durchschneiden, wenn ich nicht gerade wieder Prinzessinnen hüten muss.
Ich steh breitbeinig da, der Mann mit dem schwarzen Anorak und dem Knopf im Ohr. Mein ganzes Hirn liegt in diesem Knopf und es spricht zu mir. Nein, nicht mein Boss. Meine innere Stimme, mein Egotinnitus. Ich bin ein Dichter, ich schreibe Gedichte, ich denke
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