Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
in Oxford sah ich Dr. Rodriguez alle paar Tage; nie gab er mir Anlass zu klagen oder gar zu befürchten, dass er etwas anderes als mein Bestes im Sinn hatte.
Das Rumpeln des Müllwagens auf der Straße reißt mich aus meinen Träumereien. Der Laster hält, die Männer steigen aus und laufen zur Rolltonne des Nachbarhauses. Ich gebe mir einen Ruck. Was mir Lucy O’Donnell erzählt hat, kann unmöglich wahr sein. Das Ganze ist nur ein übler Scherz.
Ich gehe wieder nach unten, schnappe mir mein Handy und rufe Hen an. Sie mag exzentrisch und etwas verrückt sein, aber sie ist eine treue Seele und seit der sechsten Klasse meine beste Freundin. Früher haben wir uns immer gemeinsam vorgestellt, grinsend wie ein Komikerduo: Gen und Hen.
Sie nimmt beim zweiten Klingeln ab.
»Hey, wie geht’s?«
Ich zögere. Jetzt wo ich weitergeben soll, was Lucy O’Donnell mir erzählt hat, kommt es mir fast zu lächerlich vor, um es laut auszusprechen. Wie konnte ich auch nur erwägen, dass es wahr sein könnte?
»Du wirst das nicht glauben«, falle ich mit der Tür ins Haus. »Gerade ist eine Frau an meiner Haustür aufgetaucht, die behauptet, Beth sei noch am Leben.«
» Was? Nicht möglich!«, japst Hen. Ich höre ihre Entrüstung, und sofort geht es mir besser.
Ich berichte ihr, was genau Lucy O’Donnell gesagt hat.
»Oh, mein Gott, ich kann nicht glauben, dass jemand zu so etwas fähig ist!«
»Sie ist wahrscheinlich einfach bloß durchgeknallt, oder?« Ich bemerke, wie sehr ich auf Hens Unterstützung baue.
»Wenn nicht schlimmer«, meint sie finster. »Hört sich an, als wollte sie dich bloß für ein paar Minuten aus dem Haus locken oder so was.«
»Aber warum?«
»Vielleicht damit sie – oder ihre Kumpels – das Haus ausräumen können, solange niemand da ist.«
Ich muss an die rundliche, nervöse Frau vor meiner Haustür denken.
»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, antworte ich unsicher.
»Was zum Teufel könnte sie sonst bezwecken?« Hen spricht jetzt sehr laut. »Warum sollte sich jemand so eine fürchterliche Geschichte ausdenken? Warum sollte dich jemand so verletzen wollen?«
»Du findest also nicht, dass ich hingehen und … mehr herausfinden sollte?«
»Herr im Himmel, Gen, auf keinen Fall.« Ich kann mir ihren Gesichtsausdruck vorstellen, ihre blassen, vor Schreck aufgerissenen Augen, den wilden Kranz von krausem Haar um ihr Gesicht. »Du darfst dieser verrückten Kuh nicht auch noch die Befriedigung verschaffen, dass sie dich drangekriegt hat.«
Ich kaue an meiner Nagelhaut. Mit den Zähnen reiße ich einen winzigen Hautstreifen ab.
Hens Sohn Nathan ruft im Hintergrund: »Mum! Mum!«
»Entschuldige, Gen.« Sie zieht scharf die Luft ein. »Ich muss Schluss machen, Nat ist erkältet und geht nicht zur Schule. Hey, soll ich was mitbringen zu Arts Party am Freitag?«
Ach, Scheiße. Ich nehme den Finger vom Mund. Das wollte ich heute eigentlich tun. Vergangenes Wochenende war Arts Vierzigster, aber feiern wollen wir erst Ende dieser Woche. Ich wollte eine Einkaufsliste aufstellen.
»Nein«, antworte ich. »Wenn ihr kommt, genügt das vollkommen.« Nathans Rufe werden lauter. »Wir reden später.«
Ich lasse das Telefon sinken. Das Gespräch mit Hen hat nicht ganz so geholfen wie erhofft. Ich glaube nicht, dass mich Lucy O’Donnell aus dem Haus locken wollte. Sie wollte hereinkommen.
Mit einem Schlag begreife ich: Anscheinend glaubt sie wirklich, dass Dr. Rodriguez uns Beth gestohlen hat.
Ich gehe von einem Zimmer ins andere. Die Stille im Haus ist bedrückend. Wieder sehe ich auf die Uhr. Schon fast 10.30 Uhr. Art ist bestimmt immer noch in seiner Besprechung. Ich möchte ihm erzählen, was geschehen ist. Möchte, dass er mir sagt, dass Lucy O’Donnell sich irrt. Eine Hochstaplerin ist, wie Hen vermutet.
Aber sie haben die Frau nicht gesehen; ihren nervösen Blick, die zitternden Hände, und wie sie versucht hat, in ihrem billigen Kostüm mit den Schweißflecken unter den Armen einen gepflegten Eindruck zu machen.
Ich bin mir sicher, dass sie glaubt, was sie gesagt hat.
Ich sitze auf der untersten Stufe, den Kopf in die Hände gestützt. Eine Minute vergeht. Dann noch eine. Bald wird es elf Uhr sein. Die Gelegenheit, mehr zu erfahren, wird bald vorüber sein. Ich bin mir praktisch sicher, dass sie nicht recht hat, aber dennoch ist da dieser kleine Zweifel, der sich wie ein Riss in mir ausbreitet, wie Gift durch meine Adern jagt.
Ich stehe auf. Ich greife nach dem
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