Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
letzten, flehenden Blick zu und zieht dann den Fuß zurück.
Ich schlage die Tür zu und drehe mich zitternd um.
Wie kann so etwas geschehen? Und warum? Ich verstehe das nicht.
Ich kann nicht still stehen, gehe im Flur auf und ab. Dann lehne ich mich an die Wand. Am Türstock gegenüber blättert die Farbe ab. Ich starre die bloßliegende Holzmaserung an. Beim Einzug vor sechs Jahren hatten wir das ganze Haus neu streichen lassen. Nun ist es wieder nötig. Mein Puls rast. Ich schließe die Augen.
Lucy O’Donnell. Mary Duncan. Diese Namen haben für mich keine Bedeutung.
Ich ziehe mein Handy heraus, und noch während ich tippe, fällt mir ein, dass Art in Brüssel in einer Besprechung ist. Ich erreiche nur die Mailbox. Atemlos hinterlasse ich die Nachricht, er soll mich dringend zurückrufen. Ich sinke an der Wand zu Boden.
Warum nur sollte jemand an der Haustüre auftauchen und eine so ungeheuerliche Lüge von sich geben? Zum Scherz? Wegen einer Wette? Dabei hat Lucy O’Donnell nicht ausgesehen, als fühle sie sich wohl dabei. Wer könnte sie zu so etwas anstiften?
Zweifel und Angst schwirren mir im Kopf herum. Ein Gedanke ergreift Besitz von mir, und ich jage die Treppe hinauf. Mary Duncans Name sollte sich leicht überprüfen lassen. Vom Papierkram der Geburtsklinik haben wir bestimmt etwas aufgehoben. Das Fair Angel war eine hochmoderne Spezialklinik; Art hat das bestimmt irgendwo in einem Ordner. Ich renne zu seinem Büro im ersten Stock, einem großen, hellen Raum voller Schränke und Regale. Ich überfliege die Etiketten der Aktenordner: lauter Konten und Kunden. Nichts Privates.
Ich gehe ans Fenster und spähe hinaus. Auf der Straße keine Spur von Lucy O’Donnell. Was hatte sie gesagt, was sie tun wollte? Sam’s Deli – das Café ganz am Anfang der Straße. Ich schaue auf die Uhr auf Arts Schreibtisch. 10.15 Uhr.
Ich besinne mich auf das, was sie gesagt hat … dass ihre Schwester bei Beths Geburt als Krankenschwester dabei gewesen ist. Dass der Arzt nur vorgegeben hat, Beth sei tot.
Es ist Wahnsinn. Unbegreiflich. An die Schwester kann ich mich nicht erinnern, sehr wohl aber an Dr. Rodriguez, den Halbgott unter den Geburtshelfern, dem ich im Fair Angel zugeteilt war. Gebräunt, gut aussehend und am Krankenbett die Ruhe selbst – niemals hätte er etwas Standeswidriges getan, uns niemals über unser Kind angelogen oder es uns gar weggenommen.
Ich drücke die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Es ist lange her, dass ich die Erinnerung an die Zeit vor dem Kaiserschnitt zugelassen habe. Art und ich verbrachten den letzten Schwangerschaftsmonat in einem gemieteten Haus am Stadtrand von Oxford. Wir waren wegen der Nähe zum Fair Angel dort hingezogen. Wie viele andere vor mir hatte ich die Klinik wegen ihres fabelhaften Gebärraums gewählt – in dessen Genuss ich dann natürlich nicht kam. Die Untersuchung in der 37. Woche ergab, dass Beth tot war, der Kaiserschnitt wurde sofort unter Vollnarkose durchgeführt. Damals dachte ich, Dr. Rodriguez hätte aus Mitgefühl so schnell eingewilligt. Konnte diese Entscheidung Teil eines Plans sein, mir Beth wegzunehmen?
Ich blicke über die Dächer und Schornsteine der viktorianischen Häuser unseres Viertels. Das Haus in Oxford in der Nähe des Fair Angel war wie geschaffen für eine fortgeschrittene, verträumte Schwangerschaft. Der Blick ging über den Cherwell, einen schönen, friedlich dahinströmenden Fluss mit einem kleinen Wäldchen und einem langen gepflasterten Weg bis ans Ufer. Der Ort passte zu meiner Stimmung. Ich war zur Ruhe gekommen in diesem letzten Monat und ließ mich durch den Tag treiben; Erschöpfung und Übelkeit des ersten Trimenons waren längst vergessen.
Art arbeitete während der ganzen Zeit, wobei man ihm zugutehalten muss, dass er jede Woche nur ein paarmal nach London verschwand. Besucher hatten wir nur wenige: Meine Mutter kam, einige Freunde. Arts Schwester Morgan besuchte uns zweimal – stürmische Stippvisiten, während sie zwischen ihrem Haus in Edinburgh und ihren Büros in New York und Genf hin und her jettete. Ihre Besuche waren kurz, aber sie war unbeschreiblich fürsorglich und besorgte mir einen Fahrer, der mich zu den Untersuchungen in die Geburtsklinik chauffierte. Dazu eine tägliche Lieferung frischer Bio-Trauben, auf die ich während der letzten drei Monate versessen war, ein stetiger Strom von Blumensträußen samt einer furchtbar teuren Kristallvase, um sie angemessen zu präsentieren. Während der Zeit
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