Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
»Eigentlich nicht.«
Ich sehe zum Fenster hinaus. Am gegenüberliegenden Dach ist der weiße Hauch wieder verschwunden.
»Vielleicht schneit es morgen ja doch nicht«, sage ich und werde sofort rot, weil mein Versuch, das Thema zu wechseln, gar so plump daherkommt.
»Wie?« Art scheint noch immer angefressen zu sein.
»Sie schämt sich für ihre englische Wesensart«, meint Lorcan und kichert vergnügt.
Ich erhebe mich, ohne ihn anzusehen. »Ich gehe jetzt ins Bett«, verkünde ich. »Schön, dass du gekommen bist, Lorcan.«
Er hebt eine Hand zum Gruß.
Art gähnt. »Nacht, Gen. Ich komm auch bald.«
Im Gehen läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. Warum bringt Lorcan mich so aus der Fassung? Schon auf der Party hätte ich mich ihm beinahe anvertraut! Beklommen steige ich die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer fällt mir beim Blick aufs Bett Dr. Rodriguez’ Visitenkarte wieder ein, und sofort denke ich nur an eines: Wie in aller Welt kann ich ihn ausfindig machen?
Montag früh ist vom angekündigten Schnee weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil, es ist ein schöner Tag, kalt zwar, aber strahlend und wolkenlos. Ich rufe noch einmal beim Fair Angel an. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. In keinem Ärzteverzeichnis, dessen ich habhaft werden kann, taucht Dr. Rodriguez auf, nicht einmal in einem Wählerverzeichnis. Wenigstens ist heute die Büroleiterin zu sprechen. Ich bitte um einen Termin bei Dr. Rodriguez, aber sie unterbricht mich gleich und sagt, der habe das Krankenhaus vor etlichen Jahren verlassen. Und »nein«, sie habe »keine Ahnung, wo er jetzt arbeitet.«
»Wissen Sie denn, wo er wohnt?«
»Persönliche Informationen darf ich leider nicht herausgeben«, sagt sie.
Zwecklos, nachzuhaken. Das höre ich schon an ihrer Stimme.
Das Ganze geht mir immer noch im Kopf herum, als es Stunden später an der Türe klingelt. Draußen auf der obersten Stufe in der Sonne steht Lorcan.
»Hallo.« Eine rostbraune Locke fällt ihm ins Gesicht. Er streicht sie wieder nach hinten.
»Hallo.« Ich weiche etwas zurück weil ich eben vom gestrigen Curry zu Mittag hatte und wahrscheinlich eine Knoblauchfahne habe.
»Hallo.« Eine Pause. »Es … es tut mir leid, dass ich einfach so aufkreuze, aber ich habe nur Arts Handynummer und …« Er bricht ab, aber ich weiß, dass ihm eigentlich auf der Zunge lag, dass er nicht mit Art sprechen wollte.
Ich trete zurück in den Flur und bin mir schrecklich bewusst, dass ich eine Jogginghose anhabe, unter der sich wahrscheinlich mein Schlüpfer abzeichnet.
»Ich habe das gefährliche Schweizer Messer hier liegen lassen.« Er marschiert voraus ins Wohnzimmer. »Mir wäre das egal, aber es ist ein Geschenk von Cal.« Er sieht über die Schulter zurück. »Meinem Sohn. Habe ich dir eigentlich von ihm erzählt?«
»Nein, eigentlich nicht.« Ich tippel hinterher und schlüpfe rasch in eine lange Hausjacke.
»Er ist vierzehn und ein totaler Computerfreak. Viel spricht er im Moment nicht mit mir, aber das Schweizer Messer war das erste Geschenk, dass er mir ohne Mitwirkung seiner Mutter gekauft hat, und ich mache ihm immer die Hölle heiß, wenn er Sachen verliert, also …«
»Kein Problem.«
Wir sind jetzt im Wohnzimmer. Lorcan zupft an den Sofapolstern, schiebt seine Hände in die Ritzen. »Tut mir leid.« Er dreht mir den Kopf zu. »In einer Minute bist du mich wieder los.«
»Macht doch nichts«, antworte ich. Jetzt, wo ich die Überraschung verdaut habe, finde ich es ganz nett, dass er da ist. Da brauche ich nicht an meine vergeblichen Bemühungen, Dr. Rodriguez aufzuspüren, zu denken. »Wie wär’s denn mit einer Tasse Tee?«
»Gern.« Er lässt sich aufs Sofa plumpsen. »Junge, vielleicht ist es ja doch nicht hier.«
Ich fahre noch einmal an der Hinterkante des Sitzpolsters entlang, dort wo Lorcan gesessen hat, und halte das Messer sofort in der Hand. Ich gebe es ihm mit dem leichten Verdacht, dass er es vielleicht doch absichtlich zurückgelassen hat, damit er einen Vorwand hat herzukommen.
Ich schiebe den Gedanken beiseite und gehe in die Küche. Bis das Wasser kocht, bücke ich mich und prüfe im glänzenden Chrom mein Spiegelbild. Meine Nase glänzt und vom Lidstrich ist wenig zu sehen, aber wenigstens ist er nicht verschmiert. Ich schneide eine Grimasse. Was in aller Welt könnte Lorcan an mir finden?
»Geniver?« Seine Stimme ist ganz nah.
Ich schrecke hoch und packe die Kante der Arbeitsfläche. Er steht in der Tür und beobachtet mich.
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