Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
»Himmel!«
»Sorry.« Er scheint in Gedanken verloren. Das Messer hält er immer noch in der Hand. Als er spricht, klappt er geistesabwesend die Klinge aus. Der scharfe Stahl wirft das Licht der Deckenleuchte zurück.
Ich mache instinktiv einen Schritt rückwärts und erinnere mich, wie leicht ich mich gestern daran verletzt habe.
»Sorry«, sagt er noch einmal, als er meine Angst bemerkt. »Blöde Gewohnheit.« Er faltet die Klinge vorsichtig wieder ins Heft. »Weißt du, ich bin nicht nur wegen des Messers hier. Ich meine, natürlich habe ich es gestern Abend hier vergessen, aber das war nicht der einzige Grund, weswegen ich hier bin.«
»Ach?«, sage ich, und es klingt etwas gewürgt. Ich verschränke die Arme, lehne mich an die Arbeitsplatte und versuche, unverkrampft auszusehen.
Lorcan grinst. »Wir haben uns unterhalten. Gestern Abend, meine ich. Und ich weiß, du wolltest über etwas sprechen. Und, na ja, manchmal ist das leichter mit jemandem, den man nicht kennt.«
»Und du bist gekommen, um zuzuhören?«, frage ich argwöhnisch.
»Und zu helfen … falls ich kann.« Er sieht mir noch immer in die Augen. »Als Kind wollte ich mal Priester werden.«
Ich muss lachen, gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. »Ich habe jede Menge Freunde, musst du wissen.« Ich greife nach zwei Bechern.
»Das ist mir klar.« Er geht an den Kühlschrank und nimmt eine Milchpackung heraus. »Aber die haben alle Kinder, stimmt’s?«
Ich schüttele den Kopf, öffne eine Schranktür und krame nach Teebeuteln. »Was hat denn das damit zu tun?«
»Ich habe gesehen, wie du dich mit einer Freundin in der Küche unterhalten hast.« Er streckt mir die Milchpackung hin. »Und ungewollt ein bisschen davon aufgeschnappt. Wie froh du seist, dass sie schwanger ist. Ihr versichert hast, dass dir das überhaupt nichts ausmacht, was natürlich völliger Schwachsinn ist, aber …«
»Du kennst mich nicht.« Ich packe die Milch und drehe mich um.
Es entsteht eine Pause. Der Wasserkocher singt und zischt und verstummt dann wieder. Ich blicke auf und frage mich, ob ich zu schroff war.
Lorcan grinst. »Habe ich nie behauptet. Aber sage mir, dass ich mich irre.« Er zeigt auf meine angekauten Nägel, die sich in die Milchpackung krallen. »Die sprechen Bände.«
Ich schüttele den Kopf, weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte das Wasser eben in ihm gekocht.
»Okay, hey, es tut mir leid.« Er zuckt die Achseln. »Ich will ja bloß helfen.«
Ich verdrehe die Augen. »Ich brauche keine Hilfe.«
Er sieht mich eindringlich an. Ich starre böse zurück. Ich sollte wütend sein über diese Frechheit. Aber sein Blick ist voller Wärme und Güte.
»Ich will ja bloß sie.« Meine Stimme ist ganz leise. Wie bei einem Kind. Klein und verletzlich. Ich sehe nach unten. Beschämt.
»Deine Tochter?«
Ich nicke – kann nicht sprechen.
»Du hast mir noch nicht ihren Namen gesagt.«
»Beth.« Es klingt wie ein Seufzer, so leise, dass er es wohl gar nicht gehört hat.
»Beth? Ein schöner Name.«
Ich nicke noch einmal. Es ist alles, was ich von ihr habe. Ihren Namen. Ich wische mir die Augen. »Entschuldigung. Ich bin nicht traurig. Das nicht.«
Lorcan kichert leise. »Na, vielleicht lässt du mich mal den Tee machen. Und du setzt dich erst einmal hin.«
Ich gehe an ihm vorbei, zurück ins Wohnzimmer. Ich setze mich aufs Sofa und warte. Ich kann es ihm nicht erzählen. Darf es nicht. Es würde verrückt klingen, und ich möchte nicht noch einmal in seiner Gegenwart weinen.
Er kommt herein und stellt die Becher mit dem Tee auf dem Tisch ab. Er macht es sich in der anderen Sofaecke bequem, gleich neben dem Foto von meinem Vater als Kind, und lächelt. »Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber mein Sohn fehlt mir sehr. Er wohnt hier in London, ich bin neun Monate im Jahr in Cork … Nun, ich trinke noch meinen Tee, und dann gehe ich wieder.«
Ich nicke. So ist es am besten. Er soll wieder gehen. Seinen Tee austrinken und wieder gehen.
Das Telefon schrillt.
»Gen?« Es ist Hen. Ihre Stimme bebt, fast als würde sie weinen. »Ich denke schon den ganzen Morgen an dich. Können wir miteinander reden, bitte? Ich muss unbedingt mit dir sprechen.«
»Was ist denn los?« Ich muss unwillkürlich an ihre Enthüllung bei der Party denken. »Geht es ums Baby?«
»Was?« Sie schnieft laut. »Nein. Doch. Nein … nein, da ist alles in Ordnung. Ich mache mir nur solche Vorwürfe, weil ich dir nichts erzählt habe
Weitere Kostenlose Bücher