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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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wollen sie jemanden herschicken. Eleanor lag schlafend in der Toilette, als ich hier ankam.«
    Noch während ich auflege, ziehe ich meinen Blazer vom Haken. In Gedanken feuere ich Pfeile mitten ins Herz der Nachtaufsicht in Eleanors betreuter Wohngruppe. Wie konnte man denn übersehen, dass jemand in der eigenen Wohnung fehlte? Ich will gerade die Tür zuziehen, als das Telefon erneut klingelt, und fast hätte ich nicht abgenommen. Aber beim fünften Klingeln gebe ich nach.
    »Ich hab schon den ganzen Morgen versucht, dich zu erreichen«, sagt meine Mutter.
    »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt.«
    »Du solltest diese Anklopf-Funktion haben, die die Telefongesellschaften heutzutage anbieten.«
    »Die was? «
    »Na, du weißt schon, wenn du mit jemandem telefonierst, und dann piept es in der Leitung …«
    »Glaub mir, das ist das Letzte, was ich will.«
    »Hmm«, bemerkt meine Mutter. »Du hast ja eine ganz schöne Laune heute Morgen.«
    »Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, Ma. Ein Notfall in Mineola.«
    »Ist Teddy zurück?«
    Als ich nicht antworte, sagt sie: »Dann fahr nach Mineola. Aber ruf mich heute Abend an.«
    Als ich auf der verstopften Autobahn festsitze, merke ich, wie aufgewühlt und verärgert ich bin. Meine Mutter weiß nur zu gut, dass Teddy nicht zurück ist. Und lustig ist das auch nicht mehr. Wenn er heute nicht zurückkommt, sind es zehn Tage, seit er weg ist. Zehn. Das ist zweistellig. Nah an der Zweiwochengrenze. Gefährlich nah an der Dreiwochen-grenze, nach der er ganz offiziell zum Arschgesicht wird, sogar nach meinen Maßstäben.
    Ich steige auf die Bremse und fluche leise. Die gute Eleanor mit ihrem Halbmondlächeln. Wie das wohl ist, eine ganze Nacht in einer Zahnarztpraxis zu verbringen? Die arme Mrs Scudder, die sich zu der Entscheidung durchringen musste, ihrer Tochter zu gestatten, das schützende Heim ihrer Kindheit zu verlassen, und die nichts anderes wollte als jede andere Mutter auch (zumindest meine Mutter, wie ich mir widerwillig eingestehen muss), dass nämlich die eigene Tochter freudig die nächste Hürde im Leben nehmen möge (in meinem Fall: die Scheidung, in Eleanors Fall: die Unabhängigkeit). Hier haben wir Eleanors Chance, mit anderen zu leben, ihre eigenen Mahlzeiten zu kochen und ihre eigenen Socken zu kaufen. Und was passiert, während sie meiner Obhut unterstellt ist? Sie wird irgendwo vergessen, wie ein Fahrrad auf dem Bürgersteig.
    In der Zahnarztpraxis sind überall die Spuren der letzten Nacht zu sehen. Ein Rollo liegt zerbrochen auf dem Boden, und die einzelnen Lamellen breiten sich aus wie ein riesiger Fächer. Auf dem malvenfarbenen Teppich ist ein dunkler Fleck von der Größe Texas’ zu sehen. Daneben liegt eine leere Flasche mit Flüssigseife. Ein einzelner Patient auf einem Chromstuhl blättert nervös in einer Wohnzeitschrift und tut krampfhaft so, als wäre alles bestens. Die Sprechstundenhilfe führt mich zur Tür der Toilette und klopft.
    »Eleanor?«, ruft sie. Sie versucht, die Tür zu öffnen. Der Messingknopf lässt sich drehen. »Ich glaube, Dr. Sharpe möchte danach noch mit Ihnen sprechen«, flüstert sie, bevor sie mit einem strengen Blick auf mich den Rückzug antritt.
    Ich mache die Toilettentür weit auf. Unter einem Standwaschbecken mit vornehm vergoldeten Armaturen sind Eleanors nackte Fußsohlen zu sehen. Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand in ihrem weißen Putzfrauenkittel da. Ihre verknautschten Socken und die Schlappen bilden einen Bogen um sie, wie bei einem kleinen Garten.
    »Eleanor«, sage ich.
    Ihr Blick ist so leer wie der einer Gummipuppe. Ich knie neben ihr nieder und ergreife ihre Hand. »He, meine Süße«, flüstere ich. Sie dreht den Kopf weg, und ich frage mich, ob ich das Halbmondlächeln jemals wieder sehen werde. »Deine Betreuerin kommt gleich. Du kannst jetzt nach Hause.«
    »Ich warte hier«, sagt sie. Ihr Haar steht ab wie die Stacheln eines Stachelschweins, ein Look, dem Marcie vermutlich nacheifern würde, wenn sie ihn sähe.
    »Eleanor«, sage ich erneut und drücke ihre kleine Hand mit den dicken Fingern. Sie wirft die Arme um meinen Hals und erdrückt mich beinahe.
    »Ist ja gut«, sage ich, obwohl gar nichts gut ist. Sie zittert wie jemand, der ein Erdbeben überlebt hat. »Ist ja gut«, wiederhole ich. Nach einer Weile lässt sie sich von mir aufhelfen. Hand in Hand gehen wir an dem Mann mit der Wohnzeitschrift vorbei. Er sieht beunruhigt aus, wie jemand, den eine menschliche Geste schockiert, die er

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