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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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unbeeindruckt. »Manchmal brauchen die Dinge einfach etwas Zeit, Rosie.« Sie sieht mich bedeutungsvoll an und steht dann auf, um zu gehen.
    »Warte!«, rufe ich. »Verrat mir eins: Was willst du mir damit sagen? Wenn du herausfinden würdest, dass du nicht weißt, wer deine Mutter und dein Vater sind, würdest du dann auch einfach darauf warten, dass die Farbe in deinem Haar rauswächst und du alles vergisst?«
    Marcie zupft nachdenklich mit der freien Hand an einem ihrer Strumpfhalter. Offensichtlich trägt sie heute eine von Seans Anzughosen und dazu ein rosa Stretchteil, das über ihrem Nabel endet. Ich kann einen einzelnen Strahl der aztekischen Sonne erkennen, die über ihren Po tätowiert ist, als sie sinnierend mit dem Rücken zu mir stehen bleibt. Sie dreht sich um und sieht mich an, kommt dann zurück und fordert ihren Sitzplatz auf meinem Schreibtisch zurück.
    »Hör mal«, seufzt sie, »wenn du rausfinden willst, wer deine Eltern sind, dann leg los und finde sie. Das ist doch gar nicht so schwer. Geh online. Du kannst sie googeln! Versuch’s im Telefonbuch! Überleg doch nur mal, wie einfach es für mich war, Teddys und Ingas neues Haus zu finden.«
    Bei der Erinnerung an Teddys und Ingas neues Haus zucke ich zusammen. Insbesondere im Licht des Anrufs heute Morgen, von Teddy höchstpersönlich, in dem er mich bat, ihn heute zum Mittagessen zu treffen. Es kommt mir befremdlich vor, dass ich eingewilligt habe, ihn in unserem alten Lieblingsrestaurant, dem Chili Choo Choo, zu treffen, wo wir in besseren Tagen oft gemeinsam zu Mittag gegessen haben. Ich mag Chili nicht einmal, was ich Teddy aber in den vier Jahren unserer Ehe nie gesagt habe. Und jetzt mag ich auch Teddy nicht mehr. Dennoch habe ich ihm zugesagt und werde die acht Straßen bis zum Restaurant laufen – vielleicht nur, weil ich noch den letzten Fitzel eines Beweises brauche, dass es wirklich vorbei ist und dass sein Fehlen an Helens Thanksgiving-Tafel kein Versehen war.
    »Ich kann dir helfen, sie zu finden«, unterbricht Marcie meine Gedanken.
    »Häh?«
    »Deine Eltern. Ich kann sie für dich finden. Helen liebt mich. Ich kann es mir erlauben, sie Sachen zu fragen, die du vermutlich nicht mal andeuten dürftest.«
    »Ich will das nicht über Helen laufen lassen. Und ich brauche auch keinen Vermittler.«
    »Ich sehe mich eher als Botschafter.« Gedankenverloren runzelt sie die Stirn. »Botschafter der Pulkowski-Republik. Ich könnte mir die passende Ausstattung besorgen. Die Epauletten, die goldenen Knöpfe … und, ja, genau … einen von diesen süßen kleinen Hüten mit Krempe …«
    »Marcie, das hier ist ernst!«
    Marcie rutscht ein zweites Mal von meinem Schreibtisch. »Alles ist ernst, Rosie. Um zwei hat Gil Fortinier einen Termin bei dir, denn er ist gerade aus seinem Klempner-Job geflogen. Man sollte meinen, das ist ernst, oder? Lass es mich wissen, wenn du meine Hilfe brauchst.«
    Sie drückt mir anteilnehmend den Arm. Ich folge ihrer kleiner werdenden aztekischen Sonne mit Blicken zur Tür. »Danke«, rufe ich ihr nach.
    Sie dreht sich stirnrunzelnd um. »Warum bleibt Ham eigentlich nicht mehr über Nacht bei dir?«
    »Er meint, wir wären noch nicht so weit.«
    »Wie ist denn der drauf? Ist er eine Nonne?«
    »Und du?«, entgegne ich. »Bist du ein Transvestit? Glaubst du wirklich, Seans Anzughose wäre kleidsam?«
    Marcie streicht mit der Hand den Hosenboden glatt. »Jetzt hörst du dich an wie Sean. Und meine Antwort an euch beide lautet Ja.« Sie tänzelt hinaus.
    Ich nehme mir Gils Akte vor und versuche, mich zu konzentrieren. Gil ist einer meiner Schützlinge mit »besonderen Bedürfnissen«, die nicht in die Kategorie geistig Behinderter fallen. Mit anderen Worten: Er ist nicht zurückgeblieben. Aber Gil hat große Probleme mit seinem Gehör. Er kann einfach nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen. Wenn der Fernseher läuft und gleichzeitig ein Wasserhahn tropft, könnte das Tropfen des Wassers genauso gut ein Straßenarbeiter vor Gils offenem Fenster sein, der mit einem Presslufthammer arbeitet. Störungen der Wahrnehmung wie diese faszinieren mich. Mein Problem war immer genau gegenteilig gelagert. Ich konnte immer deutlich zwei Sachen gleichzeitig wahrnehmen. Mein Problem ist es, die Wahrheit zu erkennen.
    Ich blättere in Gils Akte und in anderen, und so vergeht der Vormittag. Ich denke über Marcies Angebot nach, meine flüchtigen biologischen Eltern zu finden, und über mein durch nichts zu entschuldigendes Verhalten

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