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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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wäre kinderleicht. Der Papierkorb für alle Briefe. Und Schweigen als Antwort darauf.
    Wahrscheinlich würden sie und Clare sich nie wiedersehen. Nun, sie für ihren Teil konnte das verkraften. Seit der Kindheit hatten sich ihrer beider Leben nie wirklich berührt. Eigentlich waren sie sich fremd. Fremd in ihrer Lebensweise. Fremd in ihren Wünschen und ihrem Streben. Fremd sogar im Bewusstsein der Rasse. Zwischen ihnen war die Mauer genauso hoch, so breit und so fest, als wäre kein Schuss schwarzen Bluts in Clare. In Wahrheit war sie sogar noch höher, breiter und fester für Clare; denn da gab es Gefahren, die sie ängstigten oder gefährdeten, unbekannt und unvorstellbar für andere ohne solche Geheimnisse.
    Der Tag näherte sich seinem Ende. Mitte Oktober war vorbei. Kalter Regen hatte eine Woche lang das verrottende Laub der kläglichen Bäume durchnässt, die die Straße der Redfields säumten, und als Hinweis auf kommende kalte Tage einen Schwall frostig feuchter Luft ins Haus geschickt. In Irenes Zimmer brannte ein kleines Feuer im Kamin. Draußen schien nur noch ein trübgraues Licht. Innen waren die Lampen schon angezündet.
    Von der oberen Diele drang der Klang junger Stimmen. Manchmal Juniors ernste und entschiedene Stimme; dann wieder Teds trügerisch heitere. Oft hörte man Lachen oder eine heftige Bewegung, Gerangel oder das Geräusch von zu Boden geschleudertem Spielzeug.
    Junior, der für sein Alter recht groß war, ähnelte in seinen Gesichtszügen und in der Gesichtsfarbe verblüffend seinem Vater; aber vom Naturell her war er praktisch und zielstrebig, was mehr nach ihr schlug als nach Brian. Ted war wissbegierig und verschlossen, offenbar weniger entschieden in seinen Vorstellungen und Wünschen. Er hatte in seinem Verhalten eine täuschende Offenheit, die für Irene ganz dem vernünftigen Sich-Fügen seines Vater ähnelte. Wenn er sich fürs Erste und mit dem Anschein charmanter Naivität der Macht überlegener Stärke, einem Erfordernis oder einem unumstößlichen Sachverhalt beugte, war es wegen seiner ausgeprägten Abneigung gegen Szenen und unangenehme Streitereien. Nochmals Brian.
    Allmählich lösten sich Irenes Gedanken von Junior und Ted, um sich ganz auf ihren Vater zu konzentrieren.
    Die alte Angst, die Angst vor der Zukunft, war noch stärker geworden und hatte sie wieder im Griff. Und sosehr Irene sich anstrengte, sie ließ sich nicht abschütteln. Es war, als müsse sie sich eingestehen, dass sie machtlos war gegen jenen schönen Schein, ihr Mann, den der Krieg ihr körperlich unversehrt zurückgegeben hatte, sei im Einklang mit ihren Wünschen; sie musste sich eingestehen, dass er bloß die wachsende Neigung verdeckt hatte, sich und was ihm gehörte vom rechtmäßigen Platz loszureißen.
    Der Verdruss darüber, dass es ihr erst einmal misslungen war, die jüngst offenbarte Unzufriedenheit zu unterlaufen, war weniger geworden und hinterließ eine unangenehme Niedergeschlagenheit. Sollte all ihre Mühe und Anstrengung, ihm diesen einen Verlust auszugleichen, ihr ruhiges Streben, ihm zu beweisen, dass ihr Weg der beste gewesen war, ihre Fürsorge um ihn, ihr sichtliches Wegstecken des eigenen Ichs null und nichtig sein auf einmal? Und wenn es so wäre, was würden die Folgen für die Jungen sein? Für sie? Für Brian selbst? Endloses Grübeln hatte keine Antwort auf diese Fragen ergeben. In ihrem Kopf war nur eine ungeheure Müdigkeit von ihrem ständigen Hin und Her.
    Der Lärm und die Unruhe von oben wurden zunehmend stärker. Irene wollte gerade zur Treppe gehen und die Jungen bitten, beim Spielen etwas ruhiger zu sein, als sie die Türklingel hörte.
    Wer konnte das denn sein? Sie lauschte auf Zulenas Absätze, die leise zur Tür hin tappten, dann das schleifende Geräusch ihrer Füße auf den Treppenstufen, dann ihr sachtes Klopfen an der Schlafzimmertür.
    »Ja. Herein.«
    Zulena stand im Türrahmen. »Jemand, der Sie sehen möchte, Mrs. Redfield.« Ihr Ton war dezent bedauernd, als wolle sie mitteilen, dass sie zögere, ihre Herrin zu dieser Stunde zu stören, und dazu noch für eine Fremde. »Eine Mrs. Bellew.«
    Clare!
    »Ach, du meine Güte! Sag ihr, Zulena«, begann Irene, »dass ich sie nicht – Nein. Ich will sie sehen. Bring sie bitte hoch.«
    Sie hörte, wie Zulena den Flur entlangging, die Treppe hinunter, dann stand sie auf, glättete mit leichtem Klopfen den zusammengedrückten Faltenwurf ihres grün und elfenbeinfarbenen Kleides. Vor dem Spiegel puderte sie sich

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