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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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die Nase und bürstete sich das Haar.
    Sie hatte vor, Clare Kendry gleich und unmissverständlich zu sagen, dass ihr Kommen nichts nütze, dass sie die Verantwortung nicht tragen könne, dass sie es mit Brian besprochen und er ihr zugestimmt habe, es sei um Clares willen klüger, sich zurückzuhalten von –
    Aber weiter kam sie nicht mit dem Einstudieren. Denn Clare war lautlos, ohne anzuklopfen, ins Zimmer getreten, und noch bevor Irene sie begrüßen konnte, hatte sie einen Kuss auf ihre dunklen Locken gedrückt.
    Als Irene Redfield die Frau vor sich anschaute, überkam sie eine seltsame Aufwallung von Zuneigung. Sie umfasste Clares Hände und rief in fast ehrfurchtsvollem Ton aus: »Mein Gott! Was siehst du schön aus, Clare!«
    Clare tat das beiseite. Wie die Pelze und den kleinen blauen Hut, den sie aufs Bett warf, bevor sie sich schräg auf Irenes Lieblingssessel setzte, den einen Fuß unter sich gesteckt.
    »Hattest du nicht vor, auf meinen Brief zu antworten, ’Rene?«, fragte sie ernst.
    Irene blickte weg. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, das man hat, wenn man nicht sehr freundlich oder nicht ganz ehrlich gewesen ist.
    Clare fuhr fort: »Ich bin jeden Tag zu dem hässlichen kleinen Postamt gegangen. Die haben sicher schon geglaubt, ich hätte eine verbotene Liebesaffäre und nun ließe der Mann mich sitzen. Jeden Morgen dieselbe Antwort: ›Nichts für Sie da.‹ Ich habe einen furchtbaren Schrecken gekriegt und gedacht, dass etwas mit deinem Brief passiert sein könnte oder mit meinem. Die halbe Nacht habe ich wach gelegen und auf die blassen Sterne geschaut – hoffnungslose Dinger, die Sterne – und habe mir Sorgen gemacht und nachgedacht. Aber schließlich dämmerte es mir, dass du nicht geschrieben hast und es auch nicht beabsichtigt hast. Und dann – kaum hatte ich Jack nach Florida verabschiedet, bin ich schnurstracks hierher. Und jetzt, ’Rene, bitte sag mir ganz offen, warum du meinen Brief nicht beantwortet hast.«
    »Weil, verstehst du –« Irene brach ab und ließ Clare warten, während sie sich eine Zigarette anzündete, das Streichholz ausblies und in den Aschenbecher warf. Sie versuchte, ihre Argumente zu ordnen, ihr sechster Sinn warnte sie, es würde schwieriger werden als gedacht, Clare Kendry davon zu überzeugen, dass Harlem purer Leichtsinn für sie sei. Schließlich fuhr sie fort: »Ich denke nur eins, du solltest hier nicht auftauchen, solltest nicht das Risiko eingehen, dich mit Schwarzen sehen zu lassen.«
    »Soll das heißen, du willst mich nicht, ’Rene?«
    Dass jemand so verletzt aussehen konnte, hatte Irene nicht für möglich gehalten. Mit aller Behutsamkeit sagte sie: »Nein, Clare, das ist es nicht. Aber du selbst musst einsehen, dass es schrecklich unklug ist und einfach nicht das Richtige.«
    Clares klingelndes Lachen ertönte, während sie mit den Händen über ihren glänzenden Haarschwall strich. »’Rene, du bist zum Schreien! Und du hast dich nicht ein bisschen verändert. Das Richtige!« Sie beugte sich vor und schaute neugierig in Irenes missbilligende braune Augen. »Das meinst du doch nicht, du kannst das nicht wirklich so meinen! Das ist unmöglich. Nicht zu fassen.«
    Irene war auf den Füßen, noch bevor sie es wusste. »Was ich sagen will, ist, dass es gefährlich ist und dass du nicht so ein blödes Risiko eingehen solltest. Niemand sollte das. Am wenigsten du.«
    Ihre Stimme klang brüchig. Denn in ihrem Kopf war ein Gedanke aufgetaucht, seltsam und nebensächlich, eine Vermutung, die sie überrascht, erschreckt und auf die Beine gebracht hatte. Dass nämlich die Frau vor ihr trotz ihres ausgeprägten Egoismus fähig war zu Gefühlshöhen und -tiefen, die sie, Irene Redfield, nie gekannt hatte. Allerdings auch nie hatte erleben wollen. Der Gedanke, die Vermutung, war so schnell wie gekommen wieder verschwunden.
    Clare sagte: »Was, ich!«
    Irene streichelte liebevoll ihren Arm, als bereue sie jenen blitzartigen Gedanken. »Ja, Clare, du bist gemeint. Es ist nicht sicher. Überhaupt nicht sicher.«
    »Sicher!«
    Es schien Irene, als hätte Clare das Wort mit den Zähnen an sich gerissen und dann von sich geschleudert. Und einen flüchtigen Augenblick lang bekam sie eine Ahnung von Clares Fähigkeit zu intensivem Fühlen, die sie befremdete und sogar abstieß. Sie hatte auch eine Vorahnung von drohendem Unglück. Als hätte Clare Kendry ihr, der Geborgenheit und Sicherheit alles bedeuteten, gesagt: ›Sicher! Zur Hölle mit der Sicherheit!‹ und es

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