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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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ausgelöscht von dem, was ihr so jäh durch den Kopf geschossen war. Sie konnte dies unmöglich gleich in konkrete Worte fassen, denn aus dem Drang, sich selbst zu schützen, schreckte sie vor genauer Bezeichnung zurück.
    Sie schloss die nichts wahrnehmenden Augen und ballte die Fäuste. Sie versuchte, nicht zu weinen. Aber ihre Lippen spannten sich, vergeblich die Mühe, die heißen Tränen der Wut und Scham zurückzuhalten, die ihr in die Augen drängten und die Wangen hinunterrannen; und so legte sie das Gesicht auf die Arme und weinte lautlos.
    Als sie sicher war, dass sie sich ausgeweint hatte, wischte sie die restlichen warmen Tränen weg und stand auf. Nachdem sie ihr verquollenes Gesicht in kaltes, erfrischendes Wasser getaucht und vorsichtig einen belebenden Spritzer Eau de Toilette aufgetragen hatte, trat sie wieder zum Spiegel und betrachtete sich ernst. Zufrieden, da keine verräterischen Spuren vom Weinen zu sehen waren, puderte sie sich das dunkel-weiße Gesicht und unterzog es mit spöttischer Verachtung einer erneuten Prüfung.
    ›Ich glaube‹, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, ›du bist irgendwie sehr, sehr töricht gewesen.‹
    Das Teeritual hielt sie, als sie unten war, eine ganze Weile beschäftigt, und das war für sie eine Wohltat. Sie wollte keinen Leerlauf, in dem ihr Geist sofort zu dem Entsetzlichen zurückkehren würde, dem ins Auge zu sehen ihr noch an Mut fehlte. Tee formvollendet einzuschenken war eine Beschäftigung, die etwas gelassene Aufmerksamkeit verlangte.
    Im Zimmer nebenan schlug eine Uhr. Ein einzelner Ton. Fünfzehn Minuten nach fünf. Später nicht! Und dennoch hatte sich in der kurzen Zeitspanne einer halben Stunde das Leben verändert, hatte seine Farbe verloren, seine Klarheit, seine ganze Bedeutung. Nein, überlegte sie, das war nicht wirklich passiert. Das Leben um sie herum ging anscheinend genauso weiter wie vorher.
    »Oh, Mrs. Runyon … Schön, Sie zu sehen … Zwei Stück? … Wirklich? … Wie aufregend! … Ja, ich denke, Dienstag ist in Ordnung …«
    Ja, das Leben ging genauso weiter wie vorher. Nur, dass sie sich verändert hatte. Dass sie so plötzlich darauf stieß und es schlagartig wusste, hatte sie verändert. Als wäre in einem lange Zeit düsteren Raum ein Streichholz angezündet worden und zeigte entsetzliche Gestalten, wo sonst nur verwischte Schatten gewesen waren.
    Plaudern, plaudern, plaudern. Jemand stellte ihr eine Frage. Sie blickte auf mit einem, wie sie selbst spürte, starren Lächeln.
    »Ja … Brian hat es im letzten Winter in Haiti erworben. Furchtbar unheimlich, nicht? … Ja, auf scheußliche Art erstaunlich … Praktisch nichts, glaube ich. Ein paar Cent …«
    Scheußlich. Eine große Müdigkeit überfiel sie. Selbst die geringe Mühe, den goldenen Tee in die dünnen alten Tassen einzuschenken, war ihr fast schon zu viel. Sie schenkte weiter Tee ein. Wiederholte ihr Lächeln. Beantwortete Fragen. Betrieb Konversation. Dabei dachte sie: ›Ich fühle mich wie die älteste Person auf der Welt, habe aber den größten Teil des Lebens noch vor mir.‹
    »Josephine Baker? … Nein. Habe ich nie gesehen … Sie könnte in Shuffle Along aufgetreten sein, aber wenn, dann erinnere ich mich nicht an sie … Oh, da irren Sie sich! … Ethel Waters ist doch absolut hinreißend …«
    Es gab das vertraute Geklingel der Löffelchen, die gegen zarte Teetassen schlugen, die leisen Begleitgeräusche beim Smalltalk, gelegentlich von einem Lachen unterbrochen. In wechselnden Grüppchen, die sich auflösten und neu zusammenfanden, bewegten sich die Gäste ungezwungen in dem großen – von Irene fast spartanisch karg eingerichteten – Raum und schufen genau das richtige Maß an Disharmonie und Unordnung, das eine Party zum Erfolg macht. Die untergehende Sonne warf lange, phantastische Schatten auf Fußboden und Wände.
    Eine Party so ähnlich wie viele andere, die sie erlebt hatte. Und doch so ganz anders. Aber sie durfte noch nicht grübeln. Zeit genug dafür später. Alle Zeit der Welt. In Sekundenschnelle blitzte die Erkenntnis in ihr auf, was diese Worte bedeuten könnten. Zeit mit Brian. Zeit ohne ihn. Schon verschwand die Erkenntnis wieder, und stattdessen regte sich der kaum kontrollierbare Impuls zu lachen, zu schreien, mit Sachen um sich zu werfen. Sie wollte plötzlich die Leute schockieren, sie verletzen, ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ihnen bewusst machen, dass sie litt.
    »Hallo, Dave … Felise … Ehrlich, deine Kleider bringen die

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